Wir sind Nijinsky
Der Choreograf John Neumeier und das Ballettensemble werden in der Semperoper gefeiert
Das Ballett „Nijinsky“ schuf der Hamburger Ballettchef John Neumeier für seine langjährige Ballettcompanie vor 24 Jahren. Mit Leben und Wirken des 1889 in Kiew geborenen und früh zu Weltruhm gelangten Tänzers Vaslaw Nijinsky beschäftigte er sich in seiner amerikanischen Heimat Cleveland jedoch bereits in der Kindheit. Über Jahrzehnte seines eigenen künstlerischen Wirkens schuf er eine umfangreiche Sammlung mit Kunstwerken und Büchern über den Tänzer.
Unter dem Titel „Nijinsky – Tanzlegende und Visionär“ war diese bereits auch mehrfach ausgestellt. Neumeier selbst wird in Dresden von vielen verehrt und gastierte hier schon zu DDR-Zeiten. Er war zu Gast an der Palucca Schule und Gret Palucca persönlich verbunden. Der erste Semperopernintendant nach der politischen Wende, Christoph Albrecht, - sein ehemaliger Hamburger Ballettbetriebsdirektor - konnte Neumeier als Gastchoreograf für das neu aufgestellte Semperoper Ballett gewinnen. An der Semperoper kamen so unter anderem die Neumeier-Ballette „Illusion – wie Schwanensee“, „Ein Sommernachtstraum“ und „Tristan“ zur Einstudierung.
Den aktuellen Bezug allerdings liefern Gastspiele des berühmten Les Ballet Russes Anfang des vorigen Jahrhunderts in Dresden mit Nijinsky als tänzerischem Aushängeschild. Gemeinsam mit seinem Impresario Sergei Diaghilew besuchte er 1912 nachweislich auch das Dalcroze-Institut in Hellerau, wo er sich über die Rhythmik informierte. Nijinsky wie Neumeier – zwei große Namen des Tanzes – als eine künstlerische und historische Referenz im 200. Gründungsjahres des Semperoper Ballett, das 2025 gefeiert wird.
Für die Premiere am 24. Januar 2025 „rekreierte“ John Neumeier sein zweiteiliges Werk für die Dresdner Tänzer:innen und musste 25 Jahre nach der Uraufführung feststellen, dass das Werk durch die aktuellen Kriege an Aktualität weiter gewonnen hat. Sein Ballett führt uns im ersten Teil zurück ins Jahr 1919, wo Nijinsky in St. Moritz zum letzten Mal öffentlich vor einem Privatpublikum tanzt. James Kirby Rogers, erst seit dieser Spielzeit im Ensemble, gibt dem legendären Tänzer über den ganzen Abend Gestalt, ohne dass man je das Gefühl hat, einer Imitation Nijinskys beizuwohnen. Er überzeugt mit ekstatischen Gesten und expressiven Gesten genau wie mit neoklassischen Folgen, Sprüngen und poetischen Bewegungen.
Nijinskys zunehmender Wahnsinn und sein emphatisches Leiden an der Welt im Nachklang des Ersten Weltkrieges durchzieht nicht nur sein eigenes kreatives Schaffen, sondern auch die (Liebes-)Beziehungen zu seinem Impresario und Liebhaber Sergei Diaghilew und zu seiner späteren Frau Romola (sehr ausdrucksstark Svetlana Gileva). Die jeweiligen Pas de Deux gehören für mich zu den bewegendsten Höhepunkten des Abends. Vorerst aber sind auf der Bühne die berühmten Rollen zu erleben, die Nijinsky selbst tanzte und die wir zumindest von Fotografien und Zeitzeugen kennen. Sie werden flankiert von Interaktionen mit wichtigen Partner:innen aus seinem Leben sowie Szenen aus den berühmten Inszenierungen des Ballets Russes mit Kostüm- und Dekorationszitaten.
Das verläuft oft parallel auf der Bühne ohne direkten Zusammenhang. Melancholie über eine vergangene Zeit und ihre kulturellen Heroen liegt über den Bildern, die sich mal kammertanzähnlich mal als Gruppengewusel ineinander schieben, jedoch kein Handlungsballett ergeben. Prophetisch ist der Auftritt von Christian Bauch als an unsichtbaren Fäden hängende und um Freiheit ringende Marionette Petruschka.
Im zweiten Teil durchläuft Nijinsky seine persönlichen Traumata mit Erinnerungen an Kindheit, die Tanzausbildung und erste Bühnenjahre am Mariinsky-Theater in Petersburg, an sein kompromissloses Ringen um einen eigenen Ausdruck und neue Themen. Sein Wahnsinn spiegelt sich in zunehmend verdichteten Kriegsbildern wider, am Ende herrscht Tod auf der Bühne wie im Inneren Nijinskys, der uns als große Künstlerpersönlichkeit und leidtragender Mensch nahegebracht wird, “Diese Gegenwärtigkeit sehe ich als eine Form der Wahrheit, nämlich dass jemand nicht spielt, sondern wirklich,ist‘. Auf dieser Wahrheit beruht die Kommunikation mit den Mitmenschen“, so John Neumeier zu seinem Ballett.
Als musikalischen Untergrund der manchmal etwas weitschweifigen Szenen wählte Neumeier zu Beginn Musik von Chopin und Schumann, im zweiten Teil erklingen Sätze aus Kompositionen von Rimskij-Korsakow und Schostakowitsch. Es spielte die Sächsische Staatskapelle unter Simon Hewett, Erster Kapellmeister der Oper Stuttgart und Erster Dirigent des Hamburger Balletts. Leider ist das neue Repertoirestück nur wenige Male im Februar zu erleben, die ersten Vorstellungen von „Nijinsky“ sind bereits ausverkauft.
Isolde Matkey
Nijinsky Ballett von John Neumeier Semperoper Ballett.
Premiere 24. Januar 2025.
Nächste Vorstellungen: 29. Januar sowie am 1., 2., 9., 14., 20. und 23. Februar 2025
www.semperoper.de