Quer und queer durch Sachsen und seinen näheren Osten
Feministisches, aber sich in Anspielungen erschöpfendes Sachsen-Theater von Missingdots in Hellerau
Mit wenig Fantasie lässt sich die bewegliche Bühnenbrücke im Nancy-Spero-Saal des Festspielhauses Hellerau als die Görlitzer Europabrücke über die Neiße interpretieren. Überquert bekanntlich überwiegend von den niederschlesischen Sachsen Richtung Einkauf in Polen. Die Produktion „Im Osten nichts Neues oder Wer wem den Hintern auswischt“ handelt nun von den aus der Gegenrichtung kommenden polnischen Pflegekräften. Das Stück spielt mit der seit zwei Jahrzehnten mäßig erfolgreichen Werbung der Stadt Görlitz um zahlungsfreudige insbesondere westdeutsche Senioren. Und denkt sich zu „Pensionopolis“ die dienstleistungsfreudigen polnischen Pflegerinnen und Pfleger gleich gegenüber in Zgorzelec hinzu.
Wie das Stück ein Gemeinschaftswerk der polnischen Autorin Kaska Bryla und der Dresdner Frauentheatergruppe „Missingdots“ ist, durchstreift es auch die weiten Konfliktfelder „germanisch-slawischer Nachbarschaft“, wie es im Untertitel heißt. Sächsische Eigenarten und ostwestdeutsche Beziehungen klingen zumindest an. Beobachtet aus feministischer Perspektive, verquirlt mit den Beziehungskisten gleich vierer Frauen und garniert mit Krimi-Elementen, denn Sunny, eine der Partnerinnen des lesbischen Paares, ist plötzlich verschwunden.
Sunny und Julia hatten eine kleine Werbeagentur mit dem satirisch aufgeladenen Namen „Worten trauen“ gegründet und sollen einen Werbefilm über Sachsen drehen. Der soll nach Görlitzer Vorbild Hochbetagte zum standesgemäßen Ableben im schrumpfenden Sachsen animieren, also „am Ende der Welt“. Der Insider denkt sofort an die millionenschwere Kampagne der Staatsregierung „So geht sächsisch“. Um ihrer Inspiration nachzuhelfen, reisen die beiden durch Sachsen und treffen unter Umständen, über die man nicht länger nachdenken muss, eine von einer Antidiskrimierungsmission besessene Polizistin und die polnische Nebenberufs-Pflegekraft Milena.
Eine Parallele zur Entstehungsgeschichte des Stücks. Fünf Frauen, darunter Autorin Bryla und Regisseurin Nora Otte, sind tatsächlich zehn Tage durch Sachsen gereist. Sachsen für Fortgeschrittene sozusagen, denn auch die westdeutsch Sozialisierten der drei Spielerinnen leben schon jahrelang hier und haben eigentlich „Osterfahrung“.
Die vier Akte des Stückes bilden folglich keinen Erzählstrang, keinen stringenten Plot. „Es ist nicht dramaturgisch einfach geschrieben und es gibt keine psychologisch gebauten Figuren, sondern Versatzstücke, Gedankenfetzen, Zuschreibungen“, beschreibt Schauspielerin Julia Amme die Bauart, die ihr aber sehr zusagt. Nicht jeder muss dieses Montage- oder Collageprinzip gut finden, in dem wenig ausgesagt, aber auf einen ganzen Themenkosmos angespielt wird. Mal hier, mal dort an- und innehalten, ein Road Trip eben. Unter die Oberfläche dringen diese Anrisse nicht vor. „Aus dem Osten nichts Neues“, ließe sich der Stücktitel abwandeln.
Den beiden für den Werbefilm umherreisenden Frauen begegnet als Anhalterin die Polin Milena auf dem Weg zu einem Pflegejob im Kurort Bad Elster. Für die Rolle wurde übrigens eine polnische Spielerin gesucht, aber nicht gefunden. Sie schließt sich ihnen kurzerhand an, und fast die erste Hälfte des Stücks vergeht mit Erörterungen über die Härten des Pflegejobs, über das „Hinternauswischen“ speziell für deutsche Kunden. „Seit der Wende pflegen die Polinnen und die Tschechinnen die Deutschen und inzwischen sind sie einfach spitze darin“, sagt Sunny. Dann geht es quer und queer durch Sachsen, auch an eigentlich hoffnungsvolle, aber belastete Orte wie Hoyerswerda.
So entsteht ein oft nicht stimmig zusammengefügtes Polen-Sachsen-Puzzle, das laut Regisseurin Nora Otte aber zur Selbstreflexion auffordere und „viele Schmerzpunkte“ enthalte. Mühsam halten eingesprochene Klammertexte den verwirrenden Mix aus Frauengeschichten, sächsischen Impressionen, demografischen und Nachbarschaftsproblemen zusammen. Die drei Frauen spielen mit Leidenschaft und legen diese besonders in die eingestreuten Poeme von Sehnsuchts- und Freiheitsträumen. Situationskomik wird zur Freude des Publikums ausgespielt, aber am meisten berühren die stummen Zärtlichkeiten.
Ein bisschen Achtundsechzigerromantik ist mit „Let the sunshine in“ aus dem Musical „Hair“ auch dabei. Nach der feministischen Perspektive befragt, verweisen die Frauen zuerst auf die Probenarbeit auf Augenhöhe und mit viel Verständnis für familiäre Belastungen, kaum auf den Text. Um Männer ginge es auch nur „marginal“, betonen sie. Eher um das „Leben in einer hierarchischen Welt“. „Es gibt immer noch einen weiter unten“, wird diese von Aziza beschrieben. Wie tief diese Muster auch bei Unangepassten meist unbewusst sitzen, zeigt das Angebot des lesbischen Paares an die Polin Milena, bei ihnen als Haushälterin einzusteigen.
Michael Bartsch
missingdots: Im Osten nichts Neues oder Wer wem den Hintern auswischt 6. und 7. Oktober, jeweils 18 Uhr, Festspielhaus Hellerau, Nancy-Spero Saal, www.missingdots.de