Lieber Hirsch als Gott
Die Serkowitzer Volksoper präsentiert »Dafne auf Naxos« als Zwangsehe von Schütz und Strauss
In voller Üppigkeit und vielleicht sogar runder konzeptionell ausgefeilt als die zehnte und elfte Version: Die Serkowitzer Volksoper präsentiert im Sommer 2022 »Dafne auf Naxos« in der Saloppe und führt uns dabei in ein Kulturhaus im Endzeitmodus in ostdeutscher Provinz. Dort hat ein Kulturhausleiter drei Probleme: Zum letzten Tag des Hauses sind zwei Produktionen zu Gast – eine fesche volkstümliche Operette, vermeintlich ausverkauft, und eine frühbarocke Ausgrabung einer »hochkulturell-verschrobenen«, also überaus ernsthaften Truppe, die auf der Studiobühne vor höchstens 45 Leuten gastieren soll.
Diese hat – passenderweise im Serkowitzer Gasthof – die verschollenen Partituren eines gewissen Heinrich Schütz gefunden, der bis vor 350 Jahren in Dresden residierte. Und schuf, unter anderem mit Dichter Martin Opitz, der vor vier Jahrhunderten Ovids »Metamorphosen« im Kopf hatte, die Pastoralkomödie »Dafne« – ob durchkomponiert oder mit Musik zum Stück schien bislang unklar. Egal: Dafne will hier jedenfalls nicht einen weibstollen Gott, sondern lieber einen Hirsch erjagen – und lässt sich, so das erste Ende nach dem zweiten Akt, in einen Lorbeerbaum verwandeln. So ist wenigstens die Vorstellung auf der Studiobühne gerettet, das Publikum, auch jenes vom Stück im Stück, ist begeistert.
Da jedoch zwei Akteure des Dafne-Ensembles und der Kronleuchter im großen Saal aus- oder runterfallen, müssen sich die beiden Truppen, die sich zuvor in erquicklicher Abneigung ob des Anspruchs an Kunst ergingen, zusammentun. So kommt es zur musikalischen »Zwangsehe« von Schütz mit Richard Strauss, der seine »Ariadne auf Naxos« mithilfe des Hofmannsthaler Hugos ebenso als Stück im Stück erschuf. Dort erwacht Ariadne aus ihrer leblosen Starre und glaubt beim Anblick Bacchus', dass der Todesbote Hermes endlich angekommen sei – hier ist es nun Dafne, die beim Anblick Apollos lieber Baum bleibt. So gibt es im dritten Akt – wir sind wieder in der drögen Realität des letzten Abends in einem Provinzkulturhaus – erst die Drohung der bevorstehenden Sprengung, die Dafne aus der Starre erlöst und – wie alle anderen Künstler – mit dem Koffer zur Flucht treibt …
Vier Debüts in zwölfter Zwangsehe
Nun genießen die beiden Volksoper-Produktionen von 2020 und 2021 schon kulturellen Heldenstatus, weil sie der Tristesse des gemeinen Kunstkotaus erfolgreich trotzten – nichtsdestotrotz hängen die eigenen Trauben ziemlich hoch. Erlebte die umjubelte Vorjahres-Uraufführung »In vulvo veritas« als elfte Edition ihre Premiere nur mit der Hälfte der Sitzplätze, so kann das zwölfte Werk – das siebte in der Saloppe vor dem zur Bühne umgebauten Zirkuswagen (auch für Zuschauer sommerregensicher überdacht) – jetzt wieder vor voller Publikumsresonanzkapelle, im Halbrund bestuhlt, gegeben werden. Rund 150 Plätzchen und die Enge auf der Bühne, diesmal eingerahmt von den beiden Solistengarderoben, warten und ergeben eine wirklich prägnante Spielsituation, die absolute Konzentration und Reaktionsfähigkeit erfordert. Neben Spaß an der Sache, der rasch über- und zurückspringt.
Die erste Überraschung ist eigentlich keine: Die beiden Debütanten im Spielsextett – Sopranistin Leila Schütz und Altus Jonathan Mayenschein – sind qualitativ sofort vollwertig integriert, wobei man das Ensemble generell als auserlesen bezeichnen muss. Bis auf zwei Ausnahmen haben alle das Weber-Label der hiesigen Musikhochschule in der Bio, was auch für die Musiker gilt. Bariton Philipp Schreyer, hier ein herrlich selbstherrlicher Apollo, ist das zweite Jahr dabei, Julia Böhme (Alt), Dorothea Wagner (Sopran) und Cornelius Uhle (Bariton) gehören quasi zum Stamm – alle sind in verschiedenen Rollen mit blitzartigen Umzügen und immer wieder in brillanten Duetten oder Chorszenen zu erleben.
Sommerabschluss und Herbststart
Verantwortlich für Libretto und Komposition sind wie immer die Herren Wolf-Dieter Gööck und Milko Kersten, Ersterer führt Regie, der Zweite ist bei der Premiere wieder musikalischer Leiter seines Quartetts Musi nad Labem, wobei aus dem Vorjahr hier nur Karina Müller an Violine wie Melodica mitspielt. Schlagwerk ist diesmal nicht nötig, dafür Bass und Cello – bei der Premiere von Kerstens Professorkollegen Christoph Hermann gespielt, der vier Mal Dietrich Zöllner vertritt – und dabei ebenso sein Debüt gibt. Daneben Daniel Rothe an Klarinette und Sax als regelmäßiger Mitspieler. Ebenso neu aus der Serkowitzer Arche ist eine alte Bekannte Gööcks: Katharina Lorenz, seit 2020 in ihrer Heimatstadt Bautzen endlich feste Ausstattungsleiterin. Sie gestaltet hier die Wildnis im Kulturhaus und artgerechte Kostüme.
Ein Tipp: Die doppelte Dernière am 25. September hat den Reiz des absoluten sächsischen Sommertheaterfinales, zumal man dann keine große Wartezeit auf den nächsten Volksopern-Gig mehr hat, denn ab 30. September heißt es »Kapitän Nemo – 20.000 Noten unter dem Meer«. Mit einer »schräg-hintergründigen unterseeischen Revue« geht man auf Einladung der Sächsischen Dampfschifffahrt in die Schlossereihalle der Laubegaster Werft. Das ist gut so, denn Jules Verne ist als Theaterstoff jüngst etwas in Vergessenheit geraten. Dann wieder mit Gööck (neben Rainer König, Robby Langer und Micha Winkler) selbst auf der Bühne. Wir erinnern uns: Vor Jahren war diese Werft fast so gefährdet wie das »Dafne«-Provinzkulturhaus.
Andreas Herrmann
Dafne auf Naxos. Eine Zwangsehe nach Heinrich Schütz und Richard Strauss von Wolf-Dieter Gööck (Buch und Regie) und Milko Kersten (Musik). Saloppe. Nächste Vorstellungen: 29. und 31. August, 21. und 25. September
www.serkowitzer-volksoper.de