Justitia kann auch lächeln

Juristen zwinkern an der Bürger:bühne ein wenig hinter der Augenbinde

Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand, sagt das Sprichwort. Aber wer möchte angesichts der Unberechenbarkeit Gottes vor Gericht schon in Gottes Hand sein? Dann schon lieber mit solchen Typen zu tun haben, wie sie »Justitia« an der Bürger:Bühne des Staatsschauspiels zeigt. Der Untertitel hätte lauten können »Juristen sind auch nur Menschen«. Also Subjekte, die sich um objektivierbare Wahrheiten bemühen, aber im Interesse eines fairen Zusammenlebens aller Menschen eben auch für andere Subjekte schicksalsbestimmende Entscheidungen treffen müssen. Irrtümer nicht ausgeschlossen. Menschen, die zwischen Robe und Zivil wechseln.

Auf der Bürger:Bühne im Kleinen Haus debattieren und inszenieren zehn Fachleute oder Fachleut*innen im Gerichtsmilieu Grundfragen von Schuld und Sühne, Recht und Gerechtigkeit. Das berühmte Zitat der DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley »Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat« taucht zwar nicht auf. Aber der Unterschied wird deutlich. Gerechtigkeit sei ein Gefühl, keine Tatsache, heißt es, und als Wunsch wird später eine »Gerechtigkeit ohne Emotionen« postuliert.

Immer wieder fühlt man sich an Bücher oder Bühnenfassungen wie »Terror« oder »Gott« des exzellenten Anwalts Ferdinand von Schirach erinnert. Aus Fallbeschreibungen und Schilderungen persönlicher Erlebnisse wachsen Diskurse über Normen und deren Sanktionsmöglichkeiten. Die temporeich und mit großer Eindringlichkeit Agierenden sind diesseits der 75 Vorstellungsminuten tatsächlich Richter, Anwälte, Schöffen, Justizangestellte, eine Referendarin kurz vor ihrem zweiten Staatsexamen oder Bürger, die als Fallbeteiligte Erfahrungen mit Justitia sammelten.

Eine Augenbinde trägt hier aber niemand, auch keine Waage, und ein Schwert erst recht nicht. Fast ein bisschen schade, dass nicht mit den symbolträchtigen Requisiten der römischen Göttin gespielt wird. Denn Regisseurin Ulrike Günther verschenkt doch sonst keine Auflockerungen, keine Überraschungen, keine Situationskomik. Keine dröge juristische Fachdisputation, keine einschläfernden Befragungen.

Im Gegenteil. Dieses Personal spielt Witz und Selbstironie genussvoll aus. Es geht schon parodierend los mit einer Verhandlungsimitation. Der Referendar kommt zu spät und muss hastig noch vereidigt werden. Die eitle Staatsanwältin mit großer weißer Brille, außerhalb des Kleinen Hauses eben jene Referendarin kurz vor ihrem Abschluss, war natürlich Jahrgangsbeste und schlägt sich beinahe mit der Strafverteidigerin. Es ist nicht die Absurdität von Kafkas »Prozess«, aber der Angeklagte heißt auch hier Josef K.

Wer weiß, wie unverzichtbar Genauigkeit, ja Pedanterie bei der Rechtsprechung ist, kann die Verlesung des Aktenzeichens, den Paragrafenaufruf oder später das Hereinschleppen gewaltiger Aktenberge getrost parodieren. Der sächsische Justizapparat verfügt offenbar kaum über diesen Humor. Die Justiz werde hier lächerlich gemacht, wird von theaterfernen Kollegen berichtet.

Der Vorwurf ist völlig unangebracht. Denn die Selbstironie korrespondiert mit dem tiefen Ernst der Akteure, wenn sie ihre Dilemmata im Beruf schildern. Dieses ungute Gefühl im Bauch bei Freispruch mangels Beweisen. Die Verteidigung eines in den Augen der meisten eindeutig Schuldigen. Darf ein DDR-Richter 1993 verurteilt werden, weil er nach damals geltendem Recht geurteilt hat? Wandelt sich nicht das Rechtsempfinden im Laufe der Zeit und mit dem Wechsel von Systemen? Die Forderung nach einer »gemeinsamen Ethik« resultiert gegen Ende aus solchen Überlegungen. Kant und Rousseau disputieren auf der Richterbank stehend über die erste Deklaration der Menschenrechte 1789 in Frankreich. Mit kombinierbaren Bänken aus dem Gerichtssaal spielt geschickt übrigens Bühnen- und Kostümbildnerin Julia Scholz.

Das juristische Nachspiel eines Verkehrsunfalls erweckt die Tote auch nicht wieder zum Leben. Eine Richterin konnte vor Betroffenheit einmal kaum ihre Tränen beherrschen. Charisma wird ebenfalls deutlich, der Wunsch, systemisch Benachteiligten anwaltlich helfen zu können. Migranten unter Generalverdacht, Arme, die Müllcontainer fleddern, Klimakämpfer der »Letzten Generation«. Noch mehr menschelt es, wenn sich die Gruppe gegenseitig indiskrete Fragen stellt. Schon mal selber etwas Verbotenes gemacht? Was trägt man unter der Robe?

Justiz ist mehr als eine Hauptverhandlung, aber die war und ist immer auch eine Show, ein Schau-Prozess. Reißerische Medienaufmachung zieht sich wie ein Running Gag durch die Vorstellung. Regisseurin Günther spricht im Interview von einem an sich schon theatralen Gerichtsraum mit festen Rollen, Kostümen und Inszenierungen. Und tatsächlich merkt man den Spielerinnen und Spielern an, dass sie Auftritte gewöhnt sind, bei denen sie für einen Erfolg möglichst souverän erscheinen müssen. Chorische Passagen stehen dieser Individualität gegenüber.

Vielleicht hätte man sich in dieser fruchtbaren Stückentwicklung noch mit den Advokaten anlegen können, die für gutes Geld gutes Recht versprechen. Vielleicht hätte man mit dem Hinweis auf die folgerichtige Dominanz von Westjuristen noch das Ost-West-Pulverfass anzünden können. Vielleicht … Dieser unterhaltsam inspirierende Abend verwies vor allem auf die Unerschöpflichkeit des Rechtspflegethemas.
Michael Bartsch

Justitia von Ulrike Günther. Regie: Ulrike Günther. Bürger.Bühne im Kleinen Haus 3.
Nächste Vorstellungen: 28. Januar, 6. und 20. Februar, 12. und 22. März 2025
www.staatsschauspiel-dresden.de