Es wird ein Teil unseres Lebens gewesen sein

Kollektive Erinnerungsarbeit am Kleinen Haus – "Der Komet" nach dem Buch von Durs Grünbein

Foto: Sebastian Hoppe

„Erinnerung – das ist kein Kuchen, den man in Ruhe backen kann. Eher ist es wie mit den Quallen im Meer, die plötzlich da sind, um einen herumschweben, den Schwimmer mit ihren Nesselfäden streifen, und dann wieder erscheinen sie in weiter Ferne, und man sieht zu, wie sie majestätisch dahinziehen, während man selbst umherirrt, richtungslos, in einem Element, in dem man nur um sein Leben schwimmend vorankommt  ...“ (Durs Grünbein in „Der Komet“, 2023)

Mit diesem Text, der fast am Ende des Buches steht, beginnt die Inszenierung im Kleinen Haus des Staatsschauspiels. Vier Schauspielerinnen und drei Schauspieler, die gemeinsam mit dem Gitarristen Matthias Krieg den Abend bestreiten, sind ein Körper, ein Quallenkörper, der zusammen atmet, seine Tentakel ausfährt, schwebt, sich schließt, wieder öffnet, um dann - sich zerteilend - jede und jeder für sich allein in diesen „Ozean der Erinnerung“ hineinzudriften …

Auch wenn Grünbein sich in dem Buch, das das Leben seiner Großmutter Dora zum Zentrum hat, nur sehr sparsam als Ich – Erzähler das Wort nimmt und Gedanken des Nachgeborenen zwischen die Erinnerungsscherben fügt, trägt dieser Zugriff den Abend im Theater. Es sind diese heutigen Menschen im heutigen Dresden, die hier stellvertretend für mehrere Generationen deren Geschichte(n) erinnern, nachdenkend und fragend, auch nachfühlend.

Erinnert wird die Geschichte von Dora, die sich mit sechzehn, aus ärmlichen Verhältnissen in einem schlesischen Dorf kommend, in ein anderes Leben rettet; in die schillernde Großstadt Dresden, wo der Schlachtergeselle Oscar auf sie wartet. Es ist das Jahr 1936, sie ist jung und verliebt und voller Hunger auf ein schönes, freies Leben in einer Stadt mit Kaffeehäusern und Parks, mit barocker Schönheit und Kultur, von der auch die sogenannten kleinen Leute partizipieren können, und sei es zweistundenweise in einem der zahlreichen Kinos der Stadt, in dem man sich wegträumt in die ganz großen Gefühlswelten. Doch diese „goldene Zeit“, wie sie es nennt, währt nur kurz. Neun Jahre später ist sie zweifache Mutter, hat die Kriegszeiten ohne Mann gemeistert, ist Dresden eine  Trümmerwüste. Ihre Familie hat überlebt. Zurück bleibt ein Herzfehler, Folge des nicht ausgeheilten Scharlachs, weil sie, wie so viele andere, am 13. Februar aus dem Krankenhausbett vor den Flammen an die Elbe flüchten muss. Was auch zurückbleibt sind verstecktere Wunden,   über die sich die späteren Schichten gelebten Lebens wie wärmende Decken legen. Die niemals ans Licht kommen.

Regisseur Tilman Köhler legt den Fokus auf diese neun Jahre, in denen Dora die Blüte und den Untergang „ihrer“ Stadt erlebt. Selten wird Grünbeins Sprache dabei in dialogische Szenen aufgelöst und wenn, dann sind das kurze Sequenzen des Innehaltens – ein flüchtiger Moment LEBEN. Meist agiert die Gruppe als Ganzes, lässt den Textkörper hineinsickern in das kollektive Gedächtnis, um ihn dann ganz individuell zu verwandeln: in Figurensprache oder – ihn neu (be)greifend, befragend – in die Sprache des heutigen Menschen, der da spricht. Es sei an dieser Stelle das gesamte Ensemble erwähnt, das nicht nur gemeinsam mit dem Regieteam die Textauswahl vorgenommen hat, sondern auch durch seine hohe Sprechkultur und eine assoziative, viele Fantasieräume eröffnende Körpersprache begeisterte: Marin Blülle, Henriette Hölzel, Sven Hönig, Christine Hoppe, Anna-Katharina Muck, Karina Plachetka, Matthias Reichwald.

Dieses „kollektive Erinnern“ verwandelt den Roman in ein kompaktes Bühnenereignis, bei dem das Theater seiner ureigensten Bestimmung nachkommt: unser Leben, unser Tun, unsere Vergangenheit und unsere Gegenwart öffentlich und mit Anerkennung unserer individuellen Verantwortung zur Diskussion zu stellen. Dass dabei manches gut recherchierte Detail aus dem Buch der subjektiven Textauswahl zum Opfer fiel, liegt im Wesen der Sache. Das subtile Einnisten des Nationalsozialismus in den Alltag weniger durch die bekannten Beispiele als vielmehr durch das immer verzweifeltere Festhalten am „schönen Leben“ zu erzählen, gipfelnd in der Faschingsparty vom 13. Februar, war für mich eine beunruhigende Entsprechung für die allzu menschliche Fähigkeit zur Verdrängung.

Das alles findet sozusagen auf dem Boden der Tatsachen statt, einem alten Stadtplan von Dresden, dessen „Planquadrate“ sich zunehmend auflösen und Abgründe freigeben, während eine große Spiegelwand das Bild verdoppeln oder auch auf den Kopf stellen kann. (Bühne: Karoly Risz) Dann senkt sich ein riesiger schwarzer Ballon herab, unheilschwanger schwebend über allem. Der verkohlte Zeppelin, der 1937 vor New York brennend ins Meer stürzte? Der verpackte Halleysche Komet von 1910, der Grünbeins Roman den Titel gab? Die Bombe, die alles in Schutt und Asche legt?

Die sieben DarstellerInnen sprechen die Beschreibungen dessen, was am 13. Februar 1945 passierte, vorn an der Rampe direkt ins Publikum. Nachdenklich, sehr persönlich, ohne Bewertungen, Schuldzuweisungen, ohne jegliche politische Inanspruchnahme. Wir alle können sehen und hören, können Fragen stellen und Veränderungen wahrnehmen. Wir können uns einmischen oder still halten … Was auch immer geschieht – es wird ein Teil unseres Lebens gewesen sein.
Caren Pfeil

Der Komet nach dem Buch von Durs Grünbein, Kleines Haus, Staatsschauspiel Dresden, Regie: Tilman Köhler, Premiere am 24. Januar 2025. Nächste Vorstellungen: 29. Januar (19.30 Uhr), 9. Februar (19 Uhr), 22. Februar (19.30 Uhr)
www.staatsschauspiel-dresden.de