Eine Premiere, zwei Meinungen
Doppelrezension zu "Die Ratten" am Staatsschauspiel Dresden
Idealismus im Endstadium? Traurige Wahrheiten im Theater
Fast eine Uraufführung: »Die Ratten« nach Hauptmann
Fünf Frauen, fünf Männer. Zehn Typen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Hier prallen Welten aufeinander, Charaktere und Abgründe. Allenfalls die Schwager Paul und Bruno haben noch eine gewissermaßen ursprüngliche Ähnlichkeit, von der sie sich aber kräftig entfernen. Paul ist die einzig ehrliche Haut in diesem Stück, ein fleißiger Arbeiter, der für seine Familie sorgt. Bruno ist in der Gosse gelandet, wird schließlich zum Mörder.
Das Staatsschauspiel hatte für Ende Januar zwei aufeinanderfolgende Premieren geplant: »Der Komet« nach dem gleichnamigen Buch von Durs Grünbein war als veritable Uraufführung ausgewiesen; die für den Folgetag vorgesehenen »Ratten« von Gerhart Hauptmann mussten gen Februar verschoben werden und wurden – in dieser Fassung – ebenfalls zur Novität. Denn Daniela Löffner, seit 2017 Hausregisseurin dieses Theaters, schuf eine eigene Version des 1911 am Berliner Lessingtheater herausgekommenen Dramas. Also fast eine zweite Uraufführung.
Wie in der Vorlage spielt das Stück in einem Mietshaus. Allerdings nicht in Berlin und auch nicht am Ende des vorletzten Jahrhunderts, sondern im Dresden von heute, was hoffentlich auch noch nicht das letzte Jahrhundert sein mag. Brunos Frau Henriette putzt beim Theatermann Harro Hassenreuter die Wohnung, dessen Tochter Walburga hat ein Verhältnis mit Möchtegern-Schauspieler Erich und entlarvt die Doppelmoral ihres Vaters. Denn der erliegt dem Sex mit einer liebeshungrigen Actrice, während die kranke Gattin daheim ans Bett gefesselt ist. Doch all das sind nur Nebenschauplätze, denn vorrangig geht es um Kinder. Um Kinderwunsch und Kindsraub, um Kindesentführung und Kindsmord. Es geht um den Zusammenprall von Arm und Reich, um das Wahrnehmen (und Ignorieren) gesellschaftlicher Unterschiede, und es geht – dies ist hier das Novum – um die Relevanz von Theater.
Das soll natürlich die Wahrheit verkünden, aber wer will die heute noch hören? Just in Zeiten kulturpolitischer Streichkonzerte und Spardebatten wird Idealismus im Endstadium als Krankheit dieses Landes apostrophiert. Der Kontrast von Gedankenkunst und tätiger Arbeit kommt zur Sprache, verbales Gendern und aktiver Geschlechtermissbrauch, reale Etatkürzungen und das Bündnis von Künstlerschaft mit dem Publikum sind weitere Themen, die Hauptmanns »Ratten« eingeimpft werden.
Die Regie hat das im Bühnenbild von Claudia Kalinski überzeugend gelöst. Handlungsorte ergeben sich ganz aus dem Agieren und aus dem Wort, werden auf einer schwarzen Schräge assoziiert, über die sich Regenschauer, Gewitterdonner und wabernde Nebel ergießen. Daniela Selig hat das Ensemble in zeitlose Kostüme gesteckt, gleichzeitig viel (zu viel?) Raum für nackte Haut gelassen, für bloßliegende Seelen. Die reduzierte Personage bietet Raum individueller Entfaltung. Fanny Staffa ist eine mütterliche Henriette, die jedoch nach dem Verlust des eigenen Kindes und dem falschen »Geschäft« mit dem Neugeborenen des polnischen Dienstmädchens Pauline (herzzerreißend Nihan Kirmanoğlu, emotional völlig zerrissen) von Gewissensbissen zerfressen ist. Oliver Simon als Ehemann Paul gibt die erwähnte ehrliche Haut, während Jannik Hinsch als Henriettes Bruder Bruno verschreckend abgedreht wirkt. Krankhaft von Drogen gezeichnet agiert auch Sarah Schmidt als Selma, ein erschütterndes Menschenabbild. Hans-Werner Leupelt demaskiert die Künstlerfigur des Harro Hassenreuter allzu nackt, überzeugt dann aber mit großer Noblesse; Tochter Walburga wird von Leonie Hämer lebensklug glaubhaft gegeben, während Jonas Holupirek als ihr Liebhaber Erich einen nervösen Geistesmenschen abgibt. Herbe Kontraste setzen Franziska Winkler und Lukas Vogelsang als liebestolle Alice und stoischer Hausmeister.
Sie alle stehen im Regen, klammern sich an die schiefe Ebene, um nicht abzustürzen zu den Ratten, gegen die kein Theatergift wirkt.
Michael Ernst
Klamauk und Drama
Premiere von Gerhart Hauptmanns »Die Ratten« am Schauspielhaus
Es ist ein Theaterexperiment: Lassen sich die beiden Positionen in Hinblick auf das Schauspiel, die in »Die Ratten« vertreten werden, in einer Inszenierung zusammenführen? Die Antwort nach der Premiere der Inszenierung von Daniela Löffner lautet: Ja.
Hauptmann, der bis heute bekannteste Vertreter des Naturalismus, brachte in seinen Stücken die Nöte der Arbeiter, derjenigen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert ansonsten keine Stimme hatten, auf die Bühne. Konsequenterweise lehnte der Dramatiker das Theater als Ort des schlichten Vergnügens ab. Das Schauspiel sollte echte Schicksale abbilden. In »Die Ratten« wird diese Hauptmann-Position von dem Schauspiel-Aspiranten Erich Spitta verkörpert, die althergebrachte von Theaterdirektor Harro Hassenreuter.
Löffner lässt mit ihrer Fassung des Dramentexts und in ihrer Inszenierung beide Arten des Theaterspiels aufleben. Das ist schon konsequent: Gibt es doch in der heutigen Zeit auch den Ruf nach Schauspiel als Unterhaltung zum Abschalten, klingeln die Kassen bei schlichtem Amüsement, fühlt »das Volk« sich ohnehin schnell überfordert. Aber natürlich gibt es nach wie vor diejenigen, die daran glauben, dass eine Inszenierung etwas erreichen kann, Menschen dazu bringen, Probleme zu realisieren.
Die Inszenierung fordert von den Besucherinnen und Besuchern einiges, und das nicht nur angesichts der Länge von drei Stunden und zwanzig Minuten, sondern eben auch dadurch, dass sie einem ständigen Wechselbad von reinster Klamotte und existentiellem Drama ausgesetzt sind. Aber: Auch wer anfangs wenig mit den Schenkelklatsch-Passagen anfangen kann, realisiert irgendwann, dass diese angesichts der dargestellten Probleme eine willkommene Pause zum Atemholen bieten.
»Die Ratten« spielt in einem Mietshaus, Hauptfigur ist Henriette – Jette – John, die den Tod ihres Babys Karl wenige Tage nach der Geburt nie verwunden hat. Ihr Mann Paul arbeitet in Hamburg-Altona, sie hilft Hassenreuther mit dem Theaterfundus, mit dem dieser auf dem Dachboden seine ruhmreiche Vergangenheit konserviert, und kümmert sich um ihren vorbestraften Bruder Bruno.
Jener Dachboden, er ist der Ort, an dem die gesamte Handlung spielt. Claudia Kalinski hat eine schiefe Ebene konstruiert, die weit in den Zuschauerraum hineinreicht – die ersten vier Sitzreihen im Parkett sind herausgenommen – und die mit der beweglichen Stahlkonstruktion im hinteren Bereich ein echter Hingucker ist.
Ein Kritikpunkt: Die Aktualisierung, die die Handlung in das heutige Dresden versetzt, ist überflüssig und wirkt billig.
Fanny Staffa brilliert in der Hauptrolle der Jette John, sie bringt uns die Frau mit ihren psychischen Problemen wirklich nahe. Besonderen Eindruck erregt auch Sarah Schmidt als Selma Knobbe, der in dieser Inszenierung große Bedeutung zukommt. Wo man zunächst Schmidts bloßen Oberkörper als überflüssigen Rückgriff auf das Theater des vergangenen Jahrhunderts, wo so etwas noch Aufsehen erregte, abtat, wird dieser zum kraftvollen Stilmittel, um die Verletzlichkeit der jungen Frau zu symbolisieren, zusammen mit Schmidts Mimik dafür zu sorgen, dass man diese Figur lange in Erinnerung behalten wird. Nihan Kirmanoğlu als Pauline muss so sprechen, wie Löffner sich wohl einen polnischen Akzent, eine osteuropäische Sprechweise, vorstellt, ihr Drama erleben wir so nie als wirklich gravierend, auch wegen der billig wirkenden Aufmachung (Kostüme: Daniela Selig) und der übertriebenen Mimik.
Jonas Holupirek als Erich Spitta hat seinen großen Auftritt, als er die Vergewaltigung seiner Schwester darstellt, dabei so überzeugend echte Qual präsentiert, wie Spitta es in seinem mit Szenenapplaus bedachten Plädoyer für ein Theater »über das, wofür die Menschen brennen«, verlangt.
Das Premierenpublikum bedankte sich mit begeistertem Applaus.
Beate Baum
Die Ratten nach Gerhart Hauptmann. Regie: Daniela Löffler. Schauspielhaus. Premiere am 1. Februar 2025.
Nächste Vorstellungen: 14. Februar, 7. und 30. März
www.staatsschauspiel-dresden.de