Blaue Offenbarungen

»Blue in mir« im Projekttheater

»Blue in mir« feierte eine Art Uraufführung im Projekttheater. – Mitte Januar 2021! Damals natürlich nicht vor Publikum, aber als engagierte Präsentation mit Verfilmung fürs Netz und einem Nachgespräch am Premierenabend, die den Charakter verriet: Es ist die Begegnung spannender Persönlichkeiten, angefangen bei Helena Fernandino als Inspiratorin.

Die gebürtige Brasilianerin des Jahrgangs 1979, die sich per Signatur via »dance/performance/production« outet, ist als Tänzerin, Choreografin, Pädagogin und alleinerziehende Mutter in Dresden zu Hause. Der Vater ihrer Töchter, mit dem sie einst frisch verheiratet – vom Angebot zur Führung einer Tanzschule bei Münster gelockt – 2003 aus Brasilien nach Deutschland kam, ist mit Wagner Moreira ein mindestens ebenso Bekannter der Dresdner Tanzszene.

Er ist seit Herbst 2020 der neue Direktor der Radebeuler Tanzcompagnie – dorthin in ein festes Engagement zu folgen, wollte sie nicht, aber dennoch arbeiten beide weiter zusammen. So führen sie das Format »C.O.R.E. Dance Projects«, welches von beiden initiiert ward, mit ihr an der Spitze fort. Nach einem kurzem Tanzfilm namens »Invitation to Dance«, choreografiert und getanzt mit Wagner Moreira, am Flügel begleitet von Simone Ferrini und von Steffen Krone sensationell in einem Schnitt im Löbauer Haus Schminke gefilmt, ist nun das zweite Projekt der publikumsfernen Neuzeit in der Welt. Bei »Blue in mir« steht Fernandino allein für Inszenierung und Choreografie, Moreira mit ihr für Konzept und Ausstattung.

Mit ihr auf der Bühne steht mit Olimpia Scardi eine ebenso schillernde Person: Die Italienerin des Jahrgangs 1960 hat ein italienisches Tanzdiplom sowie einen Folkwangabschluss im Bühnentanz, kam im Wendejahr nach Deutschland und blieb seit ihrer Berufung 1999 als Professorin für Modernen Tanz an der Palucca-Hochschule in Dresden – und unterrichtet heute noch in den Fächern Zeitgenössischer Tanz, Komposition und Improvisation.

Gemeinsam bieten sie nun zur reduziert eingesetzten Musik des Berliners Jarii van Gohl – schwere Akkorde, wellige, orchestrale Klänge, von verstörenden Geräuschen gebrochen – eine Reise ins Blaue. Dobei wird die Inszenierung ebenso durch die Videos von Héctor Solari geprägt – der Montevideoer des Jahrgangs 1959 lernte Fernandino und Moreira vermutlich bereits während deren Görlitzer Zeit, also während dem Festengagement bei Gundula Peuthert, kennen.

Die Filme werden auf zwei Jalousien geworfen, die neben einem Seil – mal als Schaukel, mal als Zopf, mal als Galgenstrick angedeutet – drehbar im Raum hängen und diesen strukturieren. Sie wirken als Fläche, als Wand und als Gitter – und werden von Fernandino, die aus ihrem eigenen Filmmund wirbelt, durchbrochen. Vor allem sind sie aber als Fenster Blickfang der und Schnittstelle zur Welt – zurzeit als Lichtquelle mehr als sonst.

Beide Frauen haben Soli, legen bei den gemeinsam getanzten Szenen Wert auf Harmonie – und nähern sich dem Thema über ihre Weltläufigkeit: Denn die Farbe hat als Seelenbeschreibung in verschiedenen Kulturen oder Sprachen durchaus verschiedene Konnotationen: hier als Umschreibung geistiger Erweiterung, im Hinduismus Charaktertiefe, im englischen Sprachraum ein eher melancholischer Zustand bis hin zum Blues, der – so die Ankündigung – bis zur depressiven Selbstentfremdung führen könne. Zwei Texte werden fragmentarisch zitiert: »Nao sou eu que gosto de nascer« von Stela do Patrocinio und »Antipoden« von Ernst Jandl – beide zur Stimmung passend.

Man schaut dabei in ausgereifter Lichtregie gern zu – allerdings wünscht man sich durchaus in jeder Minute weg vom Bildschirm und rein in den Saal, denn die Atmosphäre des meist als Totale gefilmten Werks bleibt trotz vieler Feinheiten als Netzfilm zu steril. Die leibhaftig antrainierten Theatersinne sind einfach unterfordert. Nicht missen möchte man hingegen den Eindruck des empathischen Nachgesprächs mit den allerorten verstreuten Protagonisten vor allem ob ihrer Freude, wieder mal ein Bühnenerlebnis vollendet zu haben und der Suggestion, dass Kultur sich einst wieder findet – inklusive der Agentur tristan Production, die sich um Finanzierung, Produktion, PR und das Gespräch kümmerte.
Andreas Herrmann

Blue in mir (UA) Konzept: Helena Fernandino und Wagner Moreira; Inszenierung und Choreografie: Helena Fernandino; Kreation und Tanz: Helena Fernandino und Olimpia Scardi
www.helenamfernandino.wordpress.com