Zwischen Schongang und Fahrlässigkeit?
Die SGD gibt in Verl den Chancenkönig und wackelt sich zur Tabellenspitze
Bei manchen Spielen erwischt man sich bei der Frage: Wo liegt eigentlich … in diesem Falle Verl? Ah, keine 20 Kilometer südlich von Bielefeld, da bekommt man eine Ahnung. Um die 28.000 Seelen bevölkern das Städtchen, gerade mal dreieinhalb Tausend von ihnen kommen ins Stadion, das ist immerhin jeder Achte. Und weil Tradition immer gern in Sachen Fußball großgeschrieben wird, sei erwähnt, dass der hier ansässige Sportclub immerhin bereits 1924 gegründet wurde – am 8. September vor 100 Jahren.
Mit dem Flugzeug brachten die Dresdner Goldfüße die knapp 500 Kilometer nach Nordrhein-Westfalen hinter sich, auch geschuldet der Hotelzimmerknappheit wegen einer Küchenmesse in der Gegend. Im mentalen Gedächtnis lagen auf jeden Fall die beiden Begegnungen der letzten Saison, zweimal verlor die SGD mit 0:1, wobei die Heimpartie am 4. Mai der letzte Sargnagel für alle Aufstiegshoffnungen war. Da wäre doch noch eine Rechnung offen. Oder?
Um diese Rechnung zu begleichen, schickt Thomas Stamm Robin Meißner und den genesenen Vinko Sapina auf die Wiese, dazu zum ersten Mal von Anfang Jan-Hendrik Marx. Kutschke, Lemmer und Menzel durften zunächst zusehen. Die Anzugsordnung der Sportgemeinschaft ist an diesem Mittwoch umgekehrt: schwarze Obertrikotage, gelbe Hose. Auch irgendwie schick. Und wie wird sich eigentlich Oliver Batista Meier schlagen an seiner scorerpunktreichen Ex-Ausleihstelle?
Die erste Halbzeit: Vanillesoße auf die Grütze
Der SC hat Anstoß, aber die SGD die erste Möglichkeit. Sapina tunnelt très chic per Hacke an der Eckfahne den Gegenspieler mit einem Kurzpass auf Daferner, der den Ball auf den Elfmeterpunkt hebt, wo sich Batista Meier an einer Direktabnahme versucht, aber drüber ballert. Das war doch mal Spielkultur mit Einszweidrei und so. Überhaupt hatte man bereits im Spielt gegen Rostock das Gefühl, dass Direktschüsse nach Ecken und Freistößen ein besonderer Trainingsschwerpunkt waren – allerdings sind da offenbar noch ein paar Einheiten nötig. Man könnte sagen: Das geht ja gut los! Nach vier Minuten mag man wieder rufen: Das geht ja gut los! Nur eben mit ganz anderer Betonung. Denn Tim Schreiber hat beim Abschlag mal wieder einen kleinen Bock drin, kann aber den Schuss von der 16er-Linie halten.
Kann alles mal passieren, dritte Liga ist nicht Europapokal. Aber in Minute 9 stockt einem dann doch der Atem. Das Duell um einen einfachen langen Ball verliert Claudio Kammerknecht als letzter Mann, und weil Bünning nicht absichert, läuft Arweiler allein auf Schreiber zu, Zeit ohne Ende, keinen im Nacken. Schreiber kommt raus, doch der Verler verliert die Nerven. Statt zu heben oder nach rechts abzuschließen, versucht er viel zu früh den flachen Schlenzer nach links und schießt daneben. Schon hier offenbart sich das Problem der Heimelf, die am Spieltag zuvor durch zwei Gegentore in der Nachspielzeit einen sicher geglaubten Sieg in Köln vergab.
Es entwickelt sich eine merkwürdige Partie, in der Verl viel Ball hat und Dresden nur das macht, was notwendig ist. Wenn es dann doch mal nach vorn geht, ist meist die rechte Seite beteiligt. So ist es auch in der 13. Minute: Casar spitzelt im Fallen das Runde zentral vor den heimischen Strafraum, wo Batista Meier wartet und sieht, wie Meißner Richtung Fünfer stiefelt. Direkt in den Lauf durch die Abwehr gesteckt, lupft Meißner zur dynamischen Führung ins Netz. Das geht ja gut los!, ruft man schon wieder, aber dass zeitige Tore noch nichts bedeuten, wissen wir.
Jetzt bemüht sich Dynamo um Spielkontrolle, mit einer Führung im Rücken soll das ja leichter fallen, aber nach und nach übernehmen die Weißhemden das Geschehen. Innerhalb von drei Minuten (24. bis 27.) gibt es drei dicke Möglichkeiten für den Ausgleich: ein Distanzschuss wird zur Ecke geblockt, Schreiber pariert mit vollem Einsatz den Ecken-Kopfball von Arweiler, der nur Sekunden später knapp über den Balken drischt, weil sich Kammerknecht mit einer einfachen Körperdrehung austricksen lässt. Die Dresdner Defensive ist mehr und mehr gestresst, nach vorn geht erst wieder nach über einer halben Stunde etwas: Batista Meier schlägt eine Freistoßflanke, die Philip Heise fast einnicken kann, aber geblockt wird. Marx versucht es aus der Distanz, aber knapp drüber ist aber auch vorbei.
Doch dann immer wieder der SC. Flanken und Ecken fliegen in den Strafraum der SGD, geklärt immer wieder in höchster Not, aber gut organisiert. Als ein gut angesetzter Schlenzer von Baack nur knapp das Tor verfehlt, ist dann aber auch etwas Glück dabei. Schreiber nutzt immer wieder die Fäuste zur Abwehr, seine Vorderleute dreschen den Ball raus, wenn es eng wird – hier wurde offenbar eine Lektion gelernt. Der Bierdeckel hat im eigenen Strafraum nichts zu suchen.
Noch zwei Minuten bis zum Pausenpfiff, doch das Betteln um den Ausgleich hält an. Taz bekommt an der Strafraumgrenze eine ungenügend per Kopf abgewehrte Flanke auf den Fuß serviert, und zieht sofort ab, doch Bünning blockt in höchster Gefahr, gottseidank. Bitte, Schiri, jetzt zum Break bitten. Doch erstens kommt es anders … Es ist ein schlicht ziellos hinten herausgeschlagener Ball in die Verler Hälfte, den Torwart Schulze am Mittelkreis annimmt. Nur noch Sekunden hat die Spieluhr bis zur Pause. Rechts vom Goalie steht ein Mitspieler volkommen frei. Aber was auch immer sich der Schlussmann gedacht hat, es geht gründlich schief. Vielleicht hat er etwas Schlusspanik, weil Meißner angerannt kommt. Schulze versucht wahrscheinlich, mit einer weiten Bogenlampe noch mal in den Dynamo-Strafraum zu spielen, aber das misslingt komplett. Denn Meißner ahnt genau das, macht den Bruce Lee und fängt das Leder ab, das nun gemütlich in die leeren Weiten rechts des Verler Strafraums kullert und immer langsamer wird. Meißner erreicht den Ball ohne Müh und Not, hat den Kopf oben und sieht, wie Daferner und Hauptmann Richtung Fünfer sprinten. Mit Schmackes auf den Kurzen, wo Daferner mit der Fußspitze geschickt einnetzt. Nullzuzwei! Ohne Wiederanpfiff geht es im strömenden Regen in die Kabinen. Glaubt man ja nicht, dass auf die gespielte Grütze jetzt noch Vanillesoße oben draufkommt.
Die zweite Halbzeit: Entscheidung aus elf Metern
Die zweite Hälfte beginnt, wie ein Großteil der ersten Halbzeit verlief: Der SC Verl macht das Spiel. Auch Arweiler verfehlt per Kopf nur knapp das Tor. Den Mann werden wahrscheinlich noch einige Albträume von diesem Spiel verfolgen. Wahrscheinlich hätte er heute nicht einmal das leere Tor aus einem Meter getroffen. Immer wieder sausen flache und hohe Bälle vor Schreiber in den Strafraum, immer wieder kann dort aufgeräumt werden, zudem ist der der Dresdner Torwart in den vielen geforderten Situationen hellwach. Es dauert bis zur 56. Minute, bis sich Dynamo mal wieder vor dem SC-Strafraum zeigt, aber Heise schickt den Ball deutlich vorbei.
Die Zweitore-Führung hat der SGD jedenfalls keinen nennenswerten Auftrieb verschaft. Offensivbewegungen sind entweder Mangelware oder mangelhaft, sogar Ballverluste in der eigenen Hälfte stehen heute auf dem Programm. Und immer weiter hagelt es Gegen-Bälle und Versuche aus der Ferne, die aber allesamt – teilweise knapp – danebengehen. Nach einer Stunde tauscht Thomas Stamm erstmals Personal: Menzel kommt für Batista Meier, Sterner für Sapina, der noch nicht wieder bei alter Stärke ist.
Ob es an den Wechseln liegt? Auf einmal ruckt Schwarzgelb an, Meißner beendet einen Konter beherzt aus knapp 20 Metern, der Keeper muss alles zeigen, um zur Ecke zu klären. Dann geht es Rund-um-den Strafraum in der Verler Hälfte. Einen Rebound zur Strafraumgrenze will sich Hauptmann selbst in den Lauf legen, doch von seiner Stirn prallt der Ball für jeden klar sichtbar an die Hand von Taz, weshalb der Referee auf den Punkt zeigt. Niemand protestiert. Daferner schnappt sich Ball und zimmert das Ding mit aller Wucht halbhoch mittig in die Maschen. Keine Chance für Schulze der in seine rechte Ecke unterwegs war. Nullzudrei. Und das bei bis hierher drei ganzen und zwei halbgaren Möglichkeiten.
Verständlicherweise gehen bei Verl jetzt die Köpfe nach unten. Sie haben alles probiert, stehen aber mit leeren Händen da – ein Gefühl, dass dem geneigten SGD-Fan nicht allzu unbekannt sein dürfte. Umso besser, einmal auf der anderen Seite zu stehen. So lala gespielt und doch deutlich gewonnen. Denn damit ist die Geschichte des Spiels nach 62 Minuten quasi beendet. Kutschke, Lemmer und Boeder bekommen noch etwas Spielzeit und jedes Team hat noch einen Fast-Treffer im Köcher. Erst wird Menzel abgefeiert weil er (schon wieder) einen Ball auf der Linie klärt, dann vergibt Meißner das vierte Dresdner Tor aus bester Position. Der Rest ist Auslaufen.
So bringt Dynamo Dresden drei Punkte aus der Ferne mit, die über die Tordifferenz zudem für die Tabellenspitze reichen. Ob der Spielweise eine Art Schongang oder Fahrlässigkeit zugrunde lag, kann ich nicht beurteilen, aber an anderen Tagen kann das gehörig schiefgehen. Ein spielerisches Aufrappeln tut zum Ausklang der englischen Woche dringend Not, wenn am Sonntag die gleichfarbigen Aachener in die Dresdner Schüssel kommen.
Was noch zu sagen wäre
In eigener Sache: Wo war eigentlich der Spielbericht zum Remis gegen Hansa? Hinter dieser Webseite steht das Stadtmagazin SAX, das monatlich auch gedruckt erscheint und zugleich Konzertveranstalter ist. Und bei all den vielen Aktivitäten heißt es: Manchmal kann man es nicht erzwingen. Von Donnerstag bis Sonntag war ich mit dem isländischen Musiker Svavar Knutur auf Tour in vier Städten, musste bis zum Montagabend die Printausgabe der SAX an die Druckerei liefern und am Mittwoch wartete bereits die nächste Partie. Zwar konnte ich den Stadionbesuch noch reinquetschen, aber das Schreiben dieser Art von Geschichten, ist zeitlich sehr aufwendig. Um es einfach zu sagen: S ging ni. Sorry. Nur eines noch dazu: Bei aller Rivalität zu wem auch immer, war die Blockfahne in meinen Augen schlichtweg widerwärtig. Es ist zu viel Krieg und Gewalt in dieser Welt für solcherart bildlichen Hass. Und der Hass an sich ist eines der Grundübel in der Welt allgemein. Und der Fußball ist ein immer wieder beliebtes Ventil, diesen rauszulassen. Und so gebe ich allen, die es hören wollen, noch ein Lied vom eben erwähnten Svavar Knutur mit – über die Liebe in einer brennenden Welt.
Uwe Stuhrberg
SC Verl vs SG Dynamo Dresden 0:3
25. September 2025, Anstoß: 19 Uhr
Tore: 0:1 Meißner (13.), 0:2 Daferner (45.+2), 0:3 Daferner (62., Elfmeter)
Dynamo Dresden: Schreiber, Kammerknecht, Casar, Bünning, Heise, Marx, Hauptmann (84. Lemmer), Sapina (59. Sterner), Batista Meier (59. Menzel), Meißner (84. Boeder), Daferner (73. Kutschke)
Ohne Einsatz: Mesenhöler, Lehmann, Risch, Bohdanov
Schiedsrichter: Max Burda
Fans: 3.536
www.dynamo-dresden.de