Zum Sterben zuviel
Kaum zu glauben: Bei Wehen-Wiesbaden siegt Dynamo last minute
Es gab in den letzten Jahren nach jeder Saison diese Aufrechnung von Punkten, die Dynamo Dresden in den letzten Spielminuten verballert hat. Es war stets ein Grauen. Dass nun ausgerechnet im Duell Pest vs. Cholera die Schwarzgelben auswärts auf diese Weise einen Sieg einfahren, ist deshalb um so bemerkenswerter. Zumal gegen Stuttgart und beim „Testspiel“ in Hannover kein einziges Tor erzielt wurde, weitestgehend gar die Chancen dafür fehlten.
In Hessen kehrte Markus Kauczinski in großen Teilen zum Stuttgart-Kader zurück, wobei Dzenis Burnic fehlte (auch für den Rest der Saison) und auch Josef Hušbauer und Patrick Ebert fehlten im Kader. Zieht man den Vergleich zur Startelf in Niedersachsen, waren es immerhin acht von zehn Spielern, die ausgetauscht wurden. Dazu rückte der im letzten Spiel hinten etwas unsicher auftretende Jannis Nikolaou mal wieder vor auf den Sechs neben Ondrej Petrak und Kevin Ehlers bekam den Platz neben Florian Ballas. René Klingenburg ist sowas wie ein Zehner. Oder auch nicht. Na, denn man tau!
Die erste Halbzeit: Aber ja, aber nein, aber ja, aber nein …
Am Anfang ist Druck. Also so ein bisschen. Ein bisschen von den Gästen. Das sieht etwas gut aus. Nikolaou schon in Minute drei auf Donyoh, aber geblockt. Dann bekommt Nikolaou plötzlich einen genauen Pass von der Grundlinie in den Fuß, doch allein in der Strafraummitte hat er weder die Ruhe noch das Auge, um platziert zu reagieren – und bolzt einfach in den nächsten Gegenspieler. Aber seit gefühlt 1953 Jahren mal wieder eine Torchance. Was will man mehr? Ein Tor vielleicht?
Gedacht, getan. Donyoh bekommt nur Sekunden später den Ball steil auf links, guckt nicht erst lange, sondern flankt mit Gottvertrauen einfach bogenlampig vor das Tor, wo Dominik Franke vollkommen ungedeckt vollstreckt. Nun mag niemand hektisch die Dresdner Aufstellung durchforsten, denn der arme Franke gehört natürlich zu den Rotschwarzen. Aber wie gekonnt er mit dem Arbeitsfuß vorbeisäbelt, um mit dem Standfuß einzunetzen – das hat schon was. Aber hey, ein Tor! Ein Tor! Der erste Corona-Geister-Treffer! Wer fragt da am nächsten Tag noch nach dem Werwiewarum? So kann es weitergehen! Noch ein Tor! Noch ein Tor!
Aber nun hat wohl jemand bei den Hessen den Tabellenrechner rausgeholt: Ohgottohgottohgott, damit sind die ja nur noch einen Punkt weg! Wir müssen jetzt was machen. Aber nun hat wohl jemand bei den Dresdnern den Tabellenrechner rausgeholt: Yearhyeahyeah, wenn wir das über die Zeit bringen, sind wir um einen Punkt dran! Diesen natürlich komplett frei erfundenen „Gedanken“ folgt nun das Geschehen auf dem Platz. Die SGD hinten drin, der SV vorn dran, wenn auch etwas unbeholfen. Noch. Aber nach 21 Minuten brenzelt es erstmal im Luftraum des Dresdner Sechzehners, doch der mutmaßlich nur 1,56 Meter große Löwe gewinnt knapp das Kopfballduell. Kurz danach will Ehlers auf Außen den Messi machen, doch sein Trick misslingt – Schäffler auf Kyereh, der umkurvt geschnmeidg noch Petrak und schiebt – nicht scharf, aber mit Auge – unten rechts an Broll vorbei ein. Man hatte noch nicht einmal genug Zeit, sich darüber maßlos aufzuregen, da fällt schon das zweite Tor für Wehen-Wiesbaden – und eine gewissen Dumpfheit befällt Groß- und Kleinhirn. Broll patscht nach einer Flanke oder will einen Marienkäfer fangen (die sind ja auch wirklich niedlich), so landet das Leder fast zentral nur wenige Meter vor der Torlinie bei Kuhn, der einfach nur dranhaut. So unplaziert der Schuss auch ist, so unglücklich geht er rein, Broll hat ihn so ein bisschen, lenkt ihn so aber genau zwischen den zwei vor der Torlinie stehenden Dynamos vorbei. Pleiten, Pech und Pannen – Einszuzwei.
Wer jetzt denkt „Das wird schon noch“ sollte zu den unverbesserlichen Optimistinnen und Optimisten gehören, die es ja durchaus geben soll. Denn nach zwei Toren in zwei Minuten gingen nicht nur die Köpfe des „weißen Balletts“ nach unten, auch die der Zuseherschaft an den Übertragungsendgeräten. Dritte Liga, wir sind unterwegs. Es scheint nun knüppeldick zu kommen, Megachancen für die Heimelf aus besten Positionen. Allein zwischen der 32. und der 35. Minute hätten weitere zwei oder drei Tore fallen können. Aber zum einen zeigt sich eben auch daran, warum Wehen-Wiesbaden da unten mit drin steht, zum anderen wird Kevin Broll zum man of the match mit furiosen Paraden und Reflexen. Aus nächster Nähe geht da die Hand hoch, stellt er seinen Körper rein, fängt er, was man schon drin sieht. Er ist die Ruhe selbst, während die Defender vor ihm im Panikmodus agieren. Immer wieder rollt es über die Linus-Seite, wo wir einen Limes bräuchten, aber nur Lücken zu sehe sind. Und dann schiebt auch noch Ballas vier Minuten vor der Pause den Ball direkt in die Beine von Mockenhaupt, der mit aller Gewalt dann doch nur die Latte trifft. Die SGD scheint auf einem Pfad der Selbstvernichtung.
Jedoch sind Fußballweisheiten eben Fußballweisheiten, weil in ihnen das gewisse Körnchen Wahrheit steckt. Eine der bekanntesten lautet: Wenn du sie vorn nicht machst … die geneigte Leserschaft möge selbst ergänzen. So kommt es zum Nicht-mehr-möglich-Geglaubten zum – noch eine Floskel – für den Gegner psychologisch ungünstigen Zeitpunkt. Sechzig Sekunden vor der Pause spielt Löwe eine sehr lange Flanke an den Fünfer und Patrick Schmidt erahnt das auch. Im goldrichtigen Moment steigt er auf wie kürzlich die SpaceX, gleich zwei SVler tropfen von ihm ab wie Wasser am Neopren und mit der rechten Schläfe wuchtet er Mann den Ball ins Netz. Gefühlsexplosionen auf dem Rasen und an den Bildschirmen, Schmidt schreit förmlich die Erlösung und Hoffnung in den Nachmittagshimmel. Das Gefühls-Hinundher puckert durch den Kopf im Rhythmus des ewigen „Aber ja, aber nein, aber ja, aber nein …“ der Vicky Pollard aus „Little Britain“. Es wird Zeit für eine Pause.
Die zweite Halbzeit: Tunnel of Love
Es geht wieder los, aber eigentlich nicht. Fußballerisch zeigt sich eine große Leere. Keiner will jetzt dem anderen ins Messer laufen, den einen schlimmen Fehler machen. Erst in der 62. gerät man wieder in Schnappatmung, als Ehlers direkt vor Broll in letzter Millisekunde mit einer in aller Schönheit vollendeten Grätsche klärt. Kurz darauf kommt Jannick Müller für René Klingenburg, der von dem Vorgang wenig erbaut ist, allerdings auch nicht groß auf sich aufmerksam machen konnte. Geht der SGD-Trainer schon in die Defensive? Will er wenigstens diesen einen Punkt in der Hoffnung, dass der KSC in Aue verliert (was auch passieren wird)? Löwe geht derweil mal schön durch, wird gelegt, Schmidt aus 20 Metern drüber. Marco Terrazzino für Godsway Donyoh, dem es nur noch etwas am Durchsatz und an der Ballannahme fehlt.
Zu Beginn der letzten Viertelstunde wollen die Hessen doch die Entscheidung, lassen aber gleich dreimal alles liegen. Beim ersten Mal retten Pfosten und Abseits die SGD, bei der zweiten und dritten Chance ist es Broll, Broll und wieder Broll. Kevin hat schlicht einen Sahnetag! Selbst wenn man beachtet, dass er am zweiten Tor eine Aktie hat und der eine oder andere Abschlag nicht dort gelandet ist, wo er sollte – was der Mann in allerhöchster Not und oft auch alleingelassen hält, ist ein Wahnsinn. Packt den Mann in eine Sänfte und tragt ihn vom Platz!
Sechs Minuten vor Schluss ein Lebenszeichen von Simon Makienok. Sieh mal an, was Wunder, der spielt ja tatsächlich mit. Bisher war eher dabei als mittendrin, auch, weil in die Spitze nichts Verwertbares kam oder keine Mitspieler vor Ort waren, um seine wenigen Ablagen anzunehmen. Jetzt aber mal eine Flanke von Terraazzino, die aber so halbhoch beim Dänen ankommt, dass er nicht platziert köpfen kann und so geht der Ball direkt in die Arme von Lindner. Noch fünf Minuten plus Nachspielzeit für einen Punkt. Mehr sind es eben heute nicht. Die Überschrift zum Bericht wird lauten: Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig.
Denkste! Denn Makienok hat noch einen – und der kommt aus der Abteilung verkehrte Welt. Ein langer Bananenpass landet auf dem Kopf von Schmidt, der diesen mit dem Hinterkopf nach vorn verlängert, eine Aufgabe, die eigenltich in der Kernkompetenz von Makienok liegt. Aber weil der Däne weiß, wie es geht, läuft er genau dorthin, wo die Schmidt’sche Ablage landen wird, dreht sich um den schon wieder unglückseligen Franke und hat auf einmal nur noch den Keeper vor sich. Und während der Gegenspieler zerrt und hält und „bitte bitte nicht“ denkt, lässt sich Makienok unfassbar viel Zeit. Als Zuseher schreit man in den Bildschirm „Schieß, schieß doch endlich!“ Eine Szene wie in Zeitlupe, nicht auszuhalten. Aber der Riese wartet noch immer, der Towart kommt ihm zögernd entgegen. Erst als Makienok so nah dran ist an Lindner, dass der den Tunnel nicht mehr schließen kann, schiebt der Stürmer dem Torwart den Ball zwischen den Beinen über die Linie. Der Tunnel of Love! Jetzt gibt es kein Halten mehr, Makienok bollern ein paar Tränen aus den Augen. Später wird Markus Kauczinski gestehen, dass er ab der 75. Minute immer wieder überlegt hat, Makienok auszuwechseln. Ist manchmal Zögerlichkeit der Schlüssel zum Erfolg?
Der Rest: Schmidt sieht Gelbrot wegen Ballwegschlagens, was man geben kann, aber mit etwas Fingerspitzengefühl nicht muss. Der SV läuft an, es mangelt aber an richtigen Ideen. Dresden bleibt bei zwei Wechseln von fünf möglichen. Abpfiff! Sieg! Jetzt ist man noch näher dran an der Relegation, aber der Nachholer gegen Fürth muss nun gewonnen werden. Dafür ist das Gefühl, doch noch gewinnen zu können, auch in der fast letzten Minute, für den Kopf unbezahlbar. Und nicht zuletzt musste die geplante Überschrift halbiert werden.
Epilog
Noch einige Worte zur Causa Ralf Minge. Ich vermag kaum verstehen, wie viele Fans der Sportgemeinschaft gleichzeitig auf die Mannschaft schimpfen und dann doch wieder den Abgang des Sportdirektors beweinen. Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Der Kerl steht für den Verein, ich werde ihn ebenso vermissen wie die meisten anderen auch, denn er steht auch für Werte, macht sich gerade. Aber seine sportliche Bilanz in den letzten Monaten ist ein Grauen. Ginge es nicht Ralf Minge, wäre der Sportdirektor wohl schon zur Winterpause nicht mehr zu halten gewesen. Der jetzige Kader geht – bis auf Marco Hartmann – komplett auf seine Kappe, der Abgang von Uwe Neuhaus und die folgenden missglückten Trainerprojekte fanden in seiner Verantwortung statt. Bei den Spielern gibt es zu viele, die ihre Qualitäten hier nicht entwickeln konnten oder diese nie hatten: Brian Hamalainen, Linus Wahlqvist, Alexander Jeremejeff, Matthäus Tafferner, Luka Stor oder Lucas Röser. Auch erfahrene Kicker wie Chris Löwe oder Josef Hušbauer kommen über Ansätze nicht hinaus. Nun gehört es zur Person Ralf Minge dazu, dass er in Lage ist, sein Tun realistisch einzuschätzen, weshalb es kein Geheimnis war, dass er seinen derzeitigen Job bei Dynamo über kurz oder nur wenig länger als kurz an den Nagel hängen wird. Insofern ist das, was jetzt passiert ist, wenig verwunderlich.
Dass allerdings der Aufsichtsrat jegliches Gespür für die besondere Situation – Abstiegskampf plus Corona – vermissen lässt und das Ganze zum Nebenkriegsschauplatz macht, erscheint so sinnlos wie eine Taschanlampe bei Sonnenschein. Die Idee, das Minge-Papier bis zum Jahresende zu verlängern und in dieser Zeit einen Nachfolger zu suchen und einzuarbeiten, mag ungewöhnlich klingen, könnte aber in diesen ungewissen Zeiten hilfreich sein. Jetzt muss ein Vereinsneuling in kürzester Zeit ankommen, übernehmen und die neue Saison vorbereiten. Die Gefahr, gleich zu Beginn in problematische Gewässer zu geraten, ist dabei nicht eben klein. Und es ist eine Atmosphäre geschaffen worden, die es schwierig machen kann, Ralf Minge – wie von vielen erhofft – in anderer Funktion in Verein zu behalten. Hoffen wir mal das beste. Dresden soll ja anders sein.
Uwe Stuhrberg
SV Wehen-Wiesbaden vs. SG Dynamo Dresden
6. Juni 2020, Anstoß: 13 Uhr
Ergebnis: 2:3
Tore: 0:1 Franke (9. ET), 1:1 Kyereh (24.), 2:1 Kuhn (25.), 2:2 Schmidt (44.), 2:3 Makienok (89.)
Dynamo Dresden: Broll, Wahlqvist, Ballas, Ehlers, C. Löwe, Nikolaou, Petrak, Klingenburg (64. Müller), Schmidt, Donyoh (71. Terrazzino), Makienok
Ohne Einsatz: Boss, Hamalainen, Kreuzer, Horvath, Kulke, Jeremejeff, Königsdörffer
Schiedsrichter: Benedikt Kempkes
Zuschauer: 0
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