Wo aber die Not am größten ...
2020 hin, 2021 her – bloß keine Normalität mehr! Von Michael Bartsch
Was bewegte die Bürger im größten Dresden der Welt – es soll noch fünf weitere in den Uneinigen Staaten von Amerika geben – im ablaufenden Jahr 2020? Man hat mal etwas von dieser panchinesischen Demie gehört, die mag ja noch erträglich sein. Aber dass der Fernsehturm weiter unbestiegen vor sich hinstehen muss, erschüttert Dresden nun wirklich bis in die Fundamente desselben. Wo doch hier alles wieder so werden muss, wie es einmal war! Und wo sonst wachsen noch Träume in den Himmel? Na ja, wer zu DDR-Zeiten Westsender empfangen wollte, fluchte auf jene die ganze Skala zudröhnenden Nahfeldstärken vom Fernsehturm.
Nun fanden in seltener Einigkeit Grüne und AfD, dass die Stadtratsvorlage von Oberbürgermeister Dirk Hilbert Anfang April zur Unzeit kam. Doch nicht nur die Seuche lässt den Himmelsstürmer auf den lichten Höhen des Sozialismus weiter vor sich hingammeln. Inzwischen wittert auch die CDU städtische Dauerkosten, wenn kein solides privates Betreiberkonzept gefunden wird. Von der Verkehrsanbindung ganz zu schweigen, die in bekannter Dresdner Weitsicht erst nach der Wiedereröffnung 2025 folgen sollte. Muss sich Dresden eben für das Jahr, in dem die Chemnitzer Konkurrenz Europas Kulturhauptstadt wird, eine andere Ersatzattraktion einfallen lassen. Auch einen anderen Witz als diesen, den Turm und das nicht ganz so markante Gorbitz mit einer Seilbahn zu verbinden.
Ernste und unernste Stadtbezirksbeiräte
Gab es sonst dramatische Ereignisse in Dresden? Na ja, ein paar umsatzschwache Wochen im Frühjahr und seit November. Dazu später nach den ungleich wichtigeren Vorkommnissen. Der immer für einen Schabernack gute Stadtbezirksbeirat der Neustadt zum Beispiel wollte im Juli dort das Internet für zwei Tage abschalten. Ein parodistischer Coup der »Partei«, die einen FDP-Antrag auf zwei verkaufsoffene Umsatz-Sonntage mehr manipulierte und ihrerseits einbrachte. Mit Erfolg! Woraufhin humorreduzierte Parteien wie die CDU wetterten, man könne das Gremium nicht mehr ernst nehmen. Das taten Grüne, Linke und »Partei« in diesem Fall auch nicht, wohl wissend, dass der Hauptstadtteil des gleichfalls reduzierten Dresdner Hedonismus´ das Wörld Weid Wepp nicht einfach abschalten kann.
Ernster als solche Streiche muss man den Stadtbezirksbeirat in Prohlis nehmen. Mitte Juli strich er mit knapper Mehrheit die Förderung von 1.600 Euro für das im Oktober geplante Bürgerfest »Prohlis ist bunt«. Dieses vom Quartiersmanagement über die Kirchgemeinde bis zu sozialen Organisationen reichende Bündnis war dem nationalprohlisischen Bündnis aus CDU, FDP, AfD und der Light-AfD von den Freien Wählern zu suspekt. Wohl auch, weil die viel zu unprohlisische Banda Internationale dort spielen sollte.
Nicht der einzige bornierte Stadtbezirksbeirat. Der von Pieschen – eigentlich auf dem Weg zu einem sich inszenierenden Stadtteil – verweigerte zunächst dem Verein »Geh8« am alten Bahngelände nahe dem neuen Superschulcampus Gelder für die Außengestaltung und die Fertigstellung eines Kunstwerkes. Das nennt Saeed Foroghi nämlich »G?Flaggschiffe« und spielt damit nicht nur auf die Gehestraße 8, sondern auf die Selbst-ernennung der führenden G8-Mitgliedstaaten an. Solche Ketzerei darf man nicht unterstützen! Im Juli kam immerhin die Teilbewilligung für eine Fortführung der Sanierung des Gebäudes.
Die ist nach dominierender Auffassung des Ausschusses für Bau und Stadtentwicklung beim traditionellen Gebäude der Herkuleskeule am Sternplatz wiederum aussichtslos. Das Ensemble soll abgerissen werden, um Sozialwohnungen zu errichten. Also wahrscheinlich solche für 15 Euro pro Quadratmeter, nachdem die christlichen Abendländer von CDU, AfD, FDP und Freie Beinahe-AfD-Wähler vereint den Sozialwohnungsanteil für Investoren auf 15 Prozent gesenkt haben.
Für Bau zuständig ist mit dem bisherigen Verkehrsexperten der Grünen-Bundestagsfraktion Stephan Kühn nun der Nachfolger des vorzeitig nach Heidelberg gewechselten Stadtentwicklungsbürgermeisters Raoul Schmidt-Lamontain. Kühns denkbar knappe Wahl trotz vorheriger breiter Absprache illustrierte einmal mehr, wie verlässlich Stadtratsbündnisse sind. Die Grünen zeigen auf die Linke, andere auf die Grünen, bei denen die Kontrahenten Michael Schmelich und Johannes Lichdi im Finanzausschuss schon mal knapp vor einer Tätlichkeit standen. Viel besser sind die Schwarzen auch nicht, wie die Wahl ihres ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Jan Donhauser zum Bildungsbürgermeister zeigte. Da hat der Mitte Juli gewählte neue Fraktionschef Peter Krüger einiges zu ordnen.
Apropos Ordnung: Im März riet das Umweltamt Dresdner Bürgern, wie sie die Folgen des »Baum-ab-Gesetzes« zumindest mildern können. Das war 2010 unter dem Druck des damaligen CDU-Koalitionspartners FDP im Landtag verabschiedet worden. Es stellte Baumfällungen auf Privatgrundstücken bis zu einem gewissen Stammumfang in das Belieben der Eigentümer. Seither rasselt die Kettensäge, und das trotz oder wegen der Liberalisierung oft illegal.
Seuchenbedingt reduzierter Hedonismus
Moment mal, neben diesen Highlights gab es 2020 doch noch ein kleines Problem, das überdies im März mitten in die »Humorzone Dresden« hineinplatzte. Deshalb zurück zur Klage über den seuchenbedingt reduzierten Hedonismus. In den stimmte Anfang Juni auch das Dresdner Gesundheitsamt ein. »Dresden unterstützt ›Welt-Huren-Tag‹«, titelte die Sexische Zeitung an eben diesem 2. Juni, dem weltweiten Kampf- und Feiertag der Sexwerktätigen und -werktätiginnen. Noch immer keine Lockerungen in diesem vermeintlich lockersten Lebensbereich, während man längst wieder eine Bratwurst lutschen konnte. Zum Zeichen der Solidarität mit den heuchlerisch diffamierten, aber nach Kundenzahlen systemrelevanten Lustspenderinnen im schrägen Gewerbe außerhalb des Pflichtbetts sollten Dresdner eine rote Lampe ins Fenster stellen. Na ja, Anfang Juni ist es lange hell …
War das nicht noch die Zeit, als von Balkonen und Plätzen mit der unvermeidlichen Schiller-Beethoven-Ode an die Freude auch anderen Dienstleistern als den Freudenmädchen gedankt wurde? Als man plötzlich entdeckte, dass die Pflegekräfte in den Heimen, die vorher nie so bezeichneten Solo-Selbstständigen oder die freien Künstler und Honorarlehrkräfte zum Lumpenproletariat eines Zweiklassenkapitalismus zählen und eigentlich eine Aufwertung verdient hätten?
In diesen Adventstagen, da das Warten auf den Heiland auch mit Warten auf den Impfstoff – so man sich dieses Teufelszeug in den heiligen naturimmunen Körper spritzen lassen will – oder mit Warten auf das Wunder einer Kapitulation des Virus übersetzen kann, mag es wie Zynismus klingen, wenn man von der »Krise als Chance« spricht. Aber standen nicht wirklich plötzlich viele Absurditäten drastisch vor Augen, an die man sich schleichend gewöhnt hatte? Nach welcher »Normalität« sehnen wir uns eigentlich? In der Kultur, namentlich beim Sächsischen Musikrat, wird es als Trugschluss angesehen, wenn man in der ersehnten postviralen Epoche einfach zum Status quo ante zurückkehren wollte.
Krise als Chance und der Verschleiß
Binnen weniger Wochen war das unsichtbare nanometerkleine Ungeheuer aus dem fernen Asien hier und versetzte das Es-geht-immer-alles-so-weiter-Abendland in Hysterie. Für die Materialisten eine Katastrophe, für die Philosophen eine Offenbarung. Gibt es in Dresden Philosophen? Zumindest in der ersten Runde schienen sie noch zu überwiegen. »Was ist ansteckender als Corona? Liebe, Fantasie, Zusammenhalt!«, warb die Stadt online und im Amtsblatt Ende März. Bleibt Dresden eben zu Hause und denkt hoffentlich über den Sinn des Lebens oder gar des Verzichts nach.
Aus der Allgemeinverfügung machten viele eine Konkretermächtigung. Wann zuvor hatte die ganze Familie Zeit, gemeinsam wochentags über leere Straßen zu radeln? Es wäre allerdings zu viel verlangt, wenn der phlegmatisch-ignorante Rathauskomplex wie andere Städte in dieser Situation Pop-up-Radwege eingerichtet hätte. Womöglich hätten sie Radler dann dauerhaft eingefordert, Sankt August bewahre! Eine Zeit lang stimulierte der Generalentzug noch. Die lange schon grassierende Online-Seuche nahm mit Zoom-Konferenzen oder Fernunterricht heilsame Züge an, an den Theatern entwickelt der Digitalersatz noch Kreativität und ästhetische Entdeckungen wie etwa Kafkas »Schloss« am Staatsschauspiel. Und entschlackte es nicht auch das Denken, ein paar Wochen lang nur das Nötigste einkaufen zu können?
Die ewige Frage, ob Krisenerfahrungen Impulse und Lernfähigkeit stimulieren, tritt inzwischen hinter die Erfahrung des Verschleißes zurück. Künstler, vor allem darstellende, können das böse »S«-Wort wie »Streamen« nur noch unter Schmerzen hören. Inszenierungen oder angeprobte Konzerte lassen sich nicht beliebig lange bis zu einer ungewissen Premiere »beatmen«. Künstler und Veranstalter wiesen eindringlich auf solche künstlerischen und materiellen Aspekte der verordneten Generalpause hin. Die Proteste der »Stummen Künstler« auf dem Neumarkt waren fair, auch wenn Initiator Kilian Forster von den Jazztagen später mit seinen vom Gesundheitsamt genehmigten (!) Corona-Zehnergruppen im Publikum der Branche einen Bärendienst erwies. Eine schöne Ges-te war der bundesweite Aktionsmontag der Theater und Orchester am 30. November, der dem Publikum signalisieren sollte: Haltet durch, wir halten uns auch für euch fit!
Alles wird gut – später
Solche Signale setzten Oberbürgermeister Dirk Hilbert und Finanzbürgermeister mit den ersten Juni-Eckwerten für den Krisenhaushalt 2021/22 gar nicht. Minus 12 Prozent bei den Sachkosten in der Kultur oder in der Jugendhilfe! Interventionen haben inzwischen eine Milderung auf durchschnittlich drei Prozent bewirkt. Der Schulhausbau muss keine Abstriche befürchten, aber die Robotron-Kantine kann für unbestimmte Zeit nur weiter von einer kulturellen Nutzung träumen. Der Mythos von der Schuldenfreiheit wackelt erneut, wenn die 140 Millionen Euro für den Neubau des Verwaltungstempels am Ferdinandplatz wieder einmal bei einer städtischen Tochtergesellschaft versteckt werden müssen. Gleichwohl hält Dresden für die Zeit nach dem Sieg an der unsichtbaren Virenfront an ehrgeizigen Vorhaben fest.
Schon im übernächsten Jahr könnte tatsächlich Fernwärme durch den gebohrten Elbtunnel nach Pie-schen fließen. Bis 2025 will das Straßen- und Tiefbauamt eine Liste noch intakter Straßen vorlegen, die man aufreißen könnte, um Fördermittel nicht verfallen zu lassen. Die Altnossener Straße in Gompitz, die selbst von Hochgeschwindigkeitsrennradlern noch ins obere Qualitätsdrittel eingestuft wurde, dient als Vorbild.
Bis dahin will das Amt auch die Reste grüner Wellen und grüner Pfeile konsequent abschaffen und damit zur planmäßigen Erhöhung des Kraftstoffverbrauchs und des Schadstoffausstoßes beitragen. Solche Anachronismen wie die Coventry- oder Washingtonstraße senkten bis vor Kurzem nur die Aufmerksamkeit der Kraftfahrer. Erst zaghaft breiten sich auch dort die notwendigen Rot-Schikanen für Nachdenkpausen über den Sinn des Autofahrens aus. Ähnliches gilt für die Überbleibsel koordinierter und berechenbarer Lichtsignalanlagen. Nicht nur tägliche, sondern stündliche Rhythmuswechsel sollen die geistige Flexibilität anregen. Das gilt nicht nur für die besonders sensiblen Ampeln, die in einem Kilometer Entfernung einen anrollenden Bus oder eine vielleicht hier vorbeikommende Straßenbahn wittern und deshalb jeglichen Verkehr für drei Minuten lahmlegen.
Wenn bis 2030 die Sanierungskos-ten für das Blaue Wunder voraussichtlich auf über 300 Millionen Euro gestiegen sein werden, wird sich eine Stadtratsvorlage an das Zweibrückenkonzept der 1990er-Jahre anstelle der Waldschlößchenbrücke erinnern und eine Entlastungsbrücke in Laubegast vorschlagen. Bis 2040 soll die Umsiedlung einkommensschwacher Stadtbevölkerungsteile in die südbrandenburgischen Reservate oder gleich in die Uckermark abgeschlossen sein, wo eine Rentnerin namens Angela Merkel wohltätig agiert.
Zum hundertsten Republikgeburtstag 2049 sollen ferner alle überwiegend aus Kratern und Kanten bestehenden Radwege in Dresden entweder liquidiert oder saniert sein. Der ADFC soll keine Gelegenheit mehr bekommen, die Glättung von 30 Metern Radweg an der Eisenbahnbrücke im Industriegelände überschwänglich zu feiern. Man ist ja nicht verwöhnt. Stückwerk wie an der vorbildlich sanierten Eisenbahnbrücke zwischen Cossebaude und Niederwartha soll nicht mehr vorkommen, wo ein kinderpopoglatter breiter Radweg unvermittelt im Dreck endet. Hier gehört eine Stopp-Mauer hin, die jeder Radler versteht!
Die Fertigstellung der Augustusbrücke ist nunmehr zur 900-Jahrfeier Dresdens 2106 fest eingeplant. Jubeln dürfen Radler aber jetzt schon: Anstelle der Katzenköpfe wird auf der Sophienstraße glattes Pflaster verlegt! Sollte Dresden den nächsten für 2060 von Newton vorausgesagten Weltuntergang überstehen, ist danach sogar ein neues Planfeststellungsverfahren für die Königsbrücker Straße vorgesehen, sodass schon Anfang des nächsten Jahrhunderts gebaut werden könnte.
Um diese Zeit wird auch eine ästhetisch sensiblere Urenkelgeneration herangewachsen sein, sodass die Stadtputzfrau angesichts des Eklektizismusses der Hässlichkeiten in der Innenstadt plötzlich fragt: Ist das Architektur oder kann das weg? Es kann aber auch sein, dass statt einer Flächensprengung nur weitere kosmetische Blumenrabatten auf dem Postplatz aufgestellt werden, die das Auge etwas milder stimmen sollen. Denn man sehnt sich in Dresden inzwischen danach, dass neben der Mund-Nasen-Bedeckung auch das Tragen einer Augenbinde Pflicht werden sollte …
Michael Bartsch