Vielfalt auf höchstem Niveau

Die Dresdner Musikfestspiele: Nach den Spiegeln folgen Visionen

Es wird nicht überraschen, dass zu den diesjährigen Dresdner Musikfestspielen der Name eines langjährigen Rauchers und früheren Politikers wieder häufiger genannt wird als sonst. Schließlich lautet das Motto der Festspiele diesmal »Visionen«. Dazu hatte Helmut Schmidt eine eigene Meinung. Der Sozialdemokrat hat sich eben nicht nur in seiner Rüstungspolitik geirrt. Auch mit dem Spruch »Wer eine Vision hat, der sollte zum Arzt gehen« lag er daneben. Wo wäre die Menschheit ohne Visionen? Anders gefragt: Wohin kommt Dresden nun mit den »Visionen«?

Vom 16. Mai an geht es also nach den musikalischen Spiegeleien vom Vorjahr um Visionäres. Was liegt da näher als ein Eröffnungskonzert mit dem Dresdner Festspielorchester, das 2012 unter ihrem Chefdirigenten Ivor Bolton gegründet worden ist mit dem in der Tat visionären Ziel, den Musikfestspielen ein klingender Botschafter in aller Welt zu sein? Bereits vor dem aktuellen, bereits 42. Jahrgang des Festivals gastierte der Klangkörper gemeinsam mit Intendant Jan Vogler in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, um dort vielleicht weniger für die Festspiele als vielmehr für die europäische Musikkultur zu werben.

Womöglich noch inspiriert von dieser transkontinentalen Reise, stellt das aus Experten der historisch informierten Aufführungspraxis zusammengestellte Orchester den Originalklang der deutschen Romantik mit Kompositionen von Weber, Schumann und Schubert ins Zentrum des von Bolton geleiteten Abends, der zudem ein Wiedersehen und -hören mit dem Dresdner Bass René Pape in Orchesterbearbeitungen von Schubert-Liedern verspricht.

Ein weiteres Konzert des Festspielorchesters darf als klingende Einladung nach Frankreich verstanden werden, wenn am 30. Mai die »Chasse fantastique« von Ernest Guiraud, die »Symphonie fantastique« von Hector Berlioz sowie das Cellokonzert Nr. 1 von Camille Saint-Saëns mit dem Intendanten als Solisten aufgeführt werden.

Jan Vogler, gleichermaßen umtriebig wie visionär, wird zudem in Konzerten mit dem Sinfonieorchester des WDR, dem Orchester des Mariinsky-Theaters sowie mit dem London Philharmonic Orchestra zu erleben sein. Eine Besonderheit im bevorstehenden Festspieljahrgang dürfte am 18. Mai Voglers Uraufführung eines Solokonzerts sein, das von drei unterschiedlichen Komponisten für ihn geschrieben worden ist. Nico Muhly, Sven Helbig und Zhou Long haben jeweils einen Satz komponiert; dass dieser Idee mit Beethovens »Eroica« ebenfalls ein höchst visionäres Werk folgt, ist dramaturgisch naheliegend.

Ein Visionär im Geiste mit künstlerisch und politisch ganz realen Folgen ist der Musiker Daniel Barenboim, der die Staatskapelle Berlin am 19. Mai nach Dresden bringt. Er hat wiederholt Grenzen überschritten, wenn es darum ging, mit der Kraft von Kunst und Kultur Frieden zu stiften – ein visionärer Botschafter mithin, der auch einer Rolle als behandelnder Arzt nachkommt.

Für einen Jazzer wie Brad Mehldau hingegen dürfte es so etwas wie Grenzen gar nicht geben, jedenfalls keine stilistischen. Wenn der Pianist mit seinem Trio am 19. Mai in den Kulturpalast kommt, dürfte eine Sternstunde zu erwarten sein. Auch die Konzerte der Wiener Philharmoniker, des City of Birmingham Symphony Orchestra und weiterer namhafter Klangkörper versprechen jetzt schon herausragende Ereignisse.

Dass die Spannbreite immer wieder weit gesteckt ist – von der Pianistin Hélène Grimaud bis hin zum Posaunisten Nils Landgren, von der Geigerin Lisa Batiashvili bis hin zu Josef Bierbichler mit Heiner Goebbels’ »Eisler-Material«, von der Sängerin Renée Fleming bis hin zum Akkordeonisten und Bandoneonisten Richard Galliano –, hat mit programmatischer Beliebigkeit nichts zu tun, sondern garantiert Vielfalt auf höchstem Niveau. Dass sich die diesjährigen Musikfestspiele dann auch noch am 10. Juni mit einem Konzert der Gitarrenlegende Eric Clapton schmücken, hätte vor kurzem noch ein jeder als unerfüllbare Vision abgetan. Doch Jan Vogler macht’s möglich, Folge einer wohlüberlegten Zufallsbegegnung am Rande eines Konzerts.

Dass neben zahlreichen internationalen Gästen und Ensembles auch die vor Ort heimische Kulturszene in die Musikfestspiele mit eingebunden wird, versteht sich von selbst. Ebenso wie die Einbettung diverser Konzertstätten. Die jetzt erreichte Klangqualität im Kulturpalast galt bis vor Kurzem ja auch noch als visionär.

Michael Ernst


Dresdner Musikfestspiele 16. Mai bis 10. Juni, www.musikfestspiele.com