Queerbaret und mehr

Festival zur ukrainischen Kultur in Hellerau

Bronislava Nijinska: Fear number

Fast scheint es, wir hätten uns an den Krieg in unserer Nähe gewöhnt. Nur noch vereinzelt flammt im Alltag die Diskussion bei bestimmten Ukraine-Fragen auf, bei den Waffenlieferungen etwa oder der Behandlung der Flüchtlinge in der Immigration. Das eigentliche Kampfgeschehen ist weit weg. Bis nach Westeuropa, in die Konzertsäle und Theater jedoch sind die Auswirkungen des zwischen Russland und der Ukraine herrschenden Kulturkrieges spürbar. Sucht Russland die ukrainische Identität gezielt durch die Auslöschung ihrer Kulturgüter und Zerstörung von Kulturstätten zu destabilisieren, kämpfen die Ukrainer:innen auf vielen Ebenen um die Emanzipation von einer seit Jahrhunderten vorherrschenden Kolonisation durch die russische Kultur. Was aber macht das Spezielle der ukrainischen Kultur aus?

Das Festival »Nebenan/Поруч. Unabhängige Kunst aus der Ukraine« zeigt nun vom 28. Juni bis 2. Juli in Hellerau die vielschichtige kulturelle Identität der Ukraine, »ihre Traditionen und Geschichten, ihre popkulturellen Einflüsse und zeitgenössischen Ästhetiken«. Das Festival beweist, wie der bereits seit der Annexion der Krim 2014 schwelende Krieg die persönlichen Biografien und die künstlerische Praxis der zeitgenössischen Akteur:innen ganz unmittelbar beeinflusst. Programmpunkte gehen aber auch auf Traditionen und die historische Geschichte der Ukraine ein. Performances, Konzerte, Vorträge, Workshops und Gespräche von und mit ukrainischen Künstler:innen und Wissenschaftler:innen zeichnen im Festspielhaus Hellerau ein buntes Bild der kulturellen Vielfalt in der Ukraine. Sie thematisieren mit verschiedenen Mitteln der zeitgenössischen Kunst, suchen zudem die direkte Auseinandersetzung mit dem Krieg und lassen uns unmittelbar teilhaben, wie eine Nation um ihre nationale wie kulturelle Identität kämpft.

Trotz dieser Thematik ist ein schrilles und buntes Festival zu erwarten. Junge popkulturell geprägte Künstler:innen bringen Arbeiten aus den Bereichen Musical, Cabaret oder Varieté nach Dresden. Die Hooligan Art Community kombiniert in »Bunker Cabaret« Live-Musik, Satire, Tanz und Film ironisch, roh, humorvoll und gleichzeitig erschütternd und rückt dem Publikum damit ganz nah. Das queer-feministische Kollektiv Bliadski Circus Queebaret öffnet die Tür zur Welt der hemmungslosen Liebe, des ekstatischen Spaßes und der ungezügelten Fantasien und verbindet Kabarett und Queerness zu einem Happening des radikalen Widerstands gegen den Krieg. Die Premiere »Ship. Bridge. Body.« in der Regie der bekannten ukrainischen Theaterregisseurin Roza Sarkisian ist Beispiel für eine neue Art Kooperation zwischen internationalen Künstler:innen und Ukrainer:innen. Sie wurde in Residenzen in den ukrainischen Karpaten, Leipzig und Dresden entwickelt, da das federführende Playwrights/театр драматургів in Kiew keine Heimstatt mehr hat. Zu dieser berührenden Musicalperformance wird auch ein Workshop angeboten. Das Konzertformat Morwan bringt der Musiker Alex Ashtaui ein, der zu den originellsten Künstler:innen der florierenden osteuropäischen PostPunk-Szene gehört. Er bekennt sich zu seinen halb-ukrainischen, halb-arabischen Wurzeln und »mixt die dunkle, treibende Rhythmik des Post-Punk mit rituellen arabischen und slawischen Motiven zu futuristischen Tracks«.

Für die Dresdner Tanzgemeinde sicher besonders spannend zu erleben: »Bronislava Nijinska Dance Reconstruction«. Die Ukraine verfügt über ein eigenes reiches Tanz- und Theatererbe der 1910er- bis 1920er-Jahre. In Kiew – weit weg vom zaristischen Ballettleben in Russland – entwickelte die Tänzerin und Choreografin Bronislava Nijinska, Schwester des berühmten Vaslav und ebenfalls Tänzerin im legendären Ballets Russes, ihre progressiven Ideen über Bewegung und Tanz. Heute wird diese Tradition erforscht und wiederbelebt durch den Choreografen Viktor Ruban. Nach dieser Aufführung wird ein Publikumsgespräch angeboten und auch ein Workshop zur Bewegungssprache von Bronislava Nijinska.

Das Festival insgesamt sucht mit vielen verschiedenen Formaten den direkten Austausch mit dem Publikum. Neben szenischen Lesungen wie »Julia Gonchar & missingdots« – eine Dresdner Kooperation mit ukrainischen Künstler:innen – gibt es Gespräche, Filme, Buchvorstellungen, Installationen und Vorlesungen. So provoziert Andrii Portnov von der Europa-Universität Frankfurt/Oder mit: »Die Ukraine ist nicht das, was Sie denken« einige interpretative Bemerkungen zur ukrainischen Geschichte und Kultur. Für Pausen im bunten Festivalprogramm bietet sich ein Besuch im Kulturgarten hinter dem Festspielhaus an. Der Heller-Treff lädt hier alle Menschen dazu ein, im Kulturgarten zu entspannen sowie an einer offenen Keramikwerkstatt und dem ArtHub-Workshop teilzunehmen.

Außerdem zeigt Olha Filonchuk hier »Belonging«, eine Reihe von immersiven Installationen, die von traditionellen Symbolen der ukrainischen Kultur inspiriert sind. Um möglichst viel Publikum zum Festival »Nebenan/Поруч« zu verführen, lockt das Festspielhaus mit verschiedenen Ticketaktionen. So erhalten Geflüchtete ihre Karten für  symbolische 2 Euro Eintritt, es gibt weiterhin das Vier-für-drei-Paket und dazu 50 Prozent Ermäßigung auf den Kauf eines weiteren Tickets.
Marthe Pinck

Nebenan/Поруч Festival Unabhängige Kunst aus der Ukraine
28. Juni bis 2. Juli, Festspielhaus Hellerau
Karten bei SaxTicket und www.saxticket.de
www.hellerau.org