Mordor vorm K

Rammstein hoben das Dynamo-Stadion aus den Angeln

Es ist schon etwas Besonderes, wenn man eine Band von ihrem Beginn an beobachten kann, vor allem, wenn sie von einem lokalen Phänomen zum weltweit beachteten Megaact wächst. Vielleicht erinnern sich einige noch daran, dass es Mitte der 90er Jahre im Beatpol, der damals noch Star Club hieß, um Weihnachten herum eine Konzertreihe gab, die unter dem Namen „Striezelbeat“ stets mehrere Bands pro Abend vereinte. An einem dieser Tage standen als Letzte auf dem Programmzettel: Rammstein. Keine Sau kannte die, die meisten waren auch schon gegangen, aber es wurde gemunkelt, das wäre was „Abgefahrenes mit Leuten von Feeling B“ und so. Schließlich standen sechs halbnackte Männer auf der Bühne, schnell schweißgebadet, brachial in der Musik und im Habitus, kleine Feuertöpfe wurden gezündet. Kinne klappten nach unten, Münder blieben offen. Neben mir stand Star-Club-Chef Lotte Lachotta mit einem breiten Grinsen, stupste mich an und weissagte: „Ist das nicht herrlich. Die werden einen gigantischen Erfolg haben.“ Das glatzköpfige Orakel sollte komplett richtig liegen.

Präludium
Besucht man Konzerte von Musikern, die unter der Kategorie „Weltstar“ rangieren, muss man auch als Fan der ersten Stunde Abstriche machen. Etwa daran, dass die Venue (wie man heute so schon sagt) sehr groß ist und ein entsprechner Abstand zu den Künstlern vorhanden ist, wenn man nicht den Battle ganz vorn führen will. Aber vor allem am Publikum. Also regen mich die grölenden Reisegruppen, die schon vorher alkoholisch komplett Abgestürzten, die sprachlich Entgleisten nicht auf, selbst die später schunkelnden Damen finde ich zwar etwas befremdlich, aber auch lustig. So ist es nun mal in Dresden und landum.

Dann ging es pünktlich 19.30 Uhr los. Als Support wurde nicht irgendeine halbgare Metalnachwuchshoffnung gebucht, denn das beste Vorprogramm für Rammstein sind immer noch Rammstein selbst. Auf einer kleinen Bühne inmitten des Menschenmeeres standen zwei Pianos, an denen das französische Duo Jatekok Songs der Band in klassischem Stil interpretierte. Natürlich „Klavier“, aber auch „Mein Herz brennt“, „Engel“, „Du hast“, „Ohne Dich“, „Seemann“ oder „Sonne“. Zurück gehen diese Fassungen auf das Album „Klavier“, das der Dresdner Pianist Clemens Pötzsch arrangiert und eingespielt hat in Kombination mit einem dazugehörigen Notenbuch. Naïri Badal und Adélaïde Panaget interpretierten diese Versionen nun mit vier Händen und forderten das Publikum zudem auf, den Gesangspart zu übernehmen, was aber nur sehr zaghaft und an wenigen Stellen gelingt. Trotzdem ist es eine schöne Idee zum Reinkommen in den Abend und ein gelungener Soundtrack zum Betrachten der Bühne. Zudem zeigen die Tastenversionen, welch universelles Liedgut oft in den Rammstein-Stücken unter den donnernden Riffs „versteckt“ ist.

Nach 40 Minuten beenden Jatekok ihr Set. Der Blick geht zum Himmel. Werden die angekündigten Gewitter kommen? Die hochragende Stahlkonstruktion auf der Bühne und die großen Boxenmasten inmitten des Publikums würden bei drohendem Blitzeinschlag wohl zu einem Abbbruch führen. Aber wie es so oft ist im Dresdner Kessel: Das Wetter ist unberechenbar und ändert sich andauernd. Es regnet mal ordentlich, aber kein Donner weit und breit. Der jedoch kommt 20.30 Uhr von vorn. Ein explosionsartiger Böllerschlag dröhnt aus dem Bühnenaufbau, der in zwei Spitzen aufragt, und etwas wirkt wie Mordor aus der Ferne im „Herrn der Ringe", dazu mittig ein hochkantiger Bildschirm, der in schwarzweißer Stummfilmoptik wiedergibt. Dann aufsteigender Rauch, Fanfarengedöns klassischer Natur weht ins Rund. Nach und nach entsteigen die sechs Rammsteine der Unterbühne, Schneider zuerst, Lindemann zuletzt – und es geht los.

Neues und Altes frisch gebrannt
Programmatisch wird der Anfang. Zu „Was ich liebe“ vom neuen Album wabern schwarze Wolken durchs Stadion. Bass und Drums sind körperlich zu spüren und gehen wortwörtlich durch Mark und Bein. Es gibt nur selten Konzerte, in denen man nur Sekunden benötigt, um „drin“ zu sein. Das hier ist so eines. Mit Song zwei folgt die nächste Ansage: „Links 2, 3, 4“. Und um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, darf die Zuhörerschaft an der vorgesehnen Stelle auch mehrfach mitschreien: „Links!“ Was seinerzeit 2001 als Klarstellung zu den immer wiederkehrenden Nazi-Vorwürfen gedacht war, ist heute eine machtvolle Standortbestimmung: „Sie wollen mein Herz am rechten Fleck/Doch sehe ich dann nach unten weg/Da schlägt es links.“

Mit „Tattoo“ geht es zurück zum 2019er Œevre, gefolgt von „Sehnsucht“. Und hier wird zum ersten Mal an diesem Abend das Feuer auch im Wortsinne entfacht. Dynamo-Ultras dürften mit Tränen in den Augen sehen, wie vor ihrem K-Block all das in tausendfacher Dimension abgefackelt und enzündet wird, was ihnen selbst so streng verboten ist. Und die Hitze der Flammenfontänen ist – selbst in einiger Entfernung – in Sekundenbruchteilen zu spüren. Flake läuft Laufband, alle anderen zur Hochform. Auch im neuen „Zeig Dich“, das sich mit der verlogenen Instituton der Kirche auseinandersetzt, wird mittig vor der Bühne Hexenfeuer-mäßig flambiert. Als schließlich „Mein Herz brennt“ auf der Setliste steht, werden erstmals alle Register gezogen. Spätestens jetzt ist kaum noch jemand unbeteiligt, auch die Sitzenden stehen und im mehr und mehr dunkelnden Abend entfaltet die bestens choreografierte Lichtshow ihren Zauber, begleitet von Feuerattacken in den Himmel. Till Lindemann schreitet mit einem roten Pyrofackel über die Bühne, da beginnt selbst der Himmel weinen. Das Herz rast.

Aber Rammstein brechen den emotionalen Bombast, als der Frontmann kurz verschwindet. Bevor dieser mit einem überdimensionalen stählernen Kinderwagen wieder auftaucht, schwenkt Flake für wenige Sekunden eine kleine Dynamo-Fahne. Doch Spaß vorbei, jetzt kommt „Puppe“, ein bitterböses Lied über zwei Schwestern – die kleine eingeschlossen, die ältere schafft im Nebenzimmer an und wird schließlich totgeschlagen. Schließlich geht die hässliche Puppe der jüngeren Schwester im Kinderwagen in Flammen auf. Mit schwarzem Rauch, der eigentlich aus Papier besteht endet das Drama, um in „Heirate mich“ zu kippen.

Zeit zum Durchschnaufen, denn es wird ruhig. Und der Wechsel von Hitmaterial und Neuem wird fortgesetzt mit der Ballade „Diamant“, wobei die Band fast kuschelig zusammenrückt und Lindemann mal richtig singen darf, bevor sich vier Menschen mit leuchtenten Strichmännchen auf der Kleidung zu technoidem Sounds über die Bühne bewegen. Das hat ein wenig Kraftwerk’sche Attitüde, wenn auch einer der Lichtanzüge immer mal ausfällt. Spätestens als an den Bühnenrändern rote Linien auftauchen ist klar: Das ist der Zeitstrahl nach „Deutschland“. Ohne die Bilder des kollossalen Videos müssen es die Worte richten, aber auch diese sind verständlich genug für alle, die hinhören wollen. Und wer genau hingehört hat, wird gemerkt haben, dass es in der letzten Wiederholung der Zeile eine kleine, aber deultiche Änderung zum Originaltext gibt: „Deutschland, meine Liebe kann und will ich dir nicht geben.“ Mit der Hinzufügung von „und will“ wird der Grundtenor noch einmal klarer. Und wie aus Ohren Augen werden, wissen wir seit dem nun folgenden „Radio“. Das Publikum derweil singt mit und gerät ordentlich in Wallung, allerdings bleiben die beiden Moshpits ganz vorn eher übersichtlich in ihrer Ausbreitung.

Nach so vielem Neukram greifen Rammstein nun wieder in die Live-Folklore, denn die Kochshow zu „Mein Teil“ gehört noch immer zu den flammablen Höhepunkten. Wer einmal das Flake-Buch „Heute hat die Welt Geburtstag“ liest, bekommt die Szenerie aus der Kesselinnensicht beschrieben – huiuiui. Jetzt ist alles Timing. Kleiner Flammenwerfer, großer Flammenwerfer, schließlich Flammenkanone auf den im Freien stehenden Flake, der schnell einen feuerfesten Überzug bekommt. Dazu die bekannten Menschenfresser-Verse samt Lecter-Zitat. Am Ende schubst das Keyboardmännchen den Muskelprotz von der Bühne. Einmal angeworfen, wird jetzt allen pyromanischen Trieben gefolgt. Bei „Du hast“ gehen die Pfeilblitze quer über das Stadion und zurück. Bei „Sonne“ – na ja, was wohl?!

Finale mit Engeln, Pussys und Ausländern
Pause. Niemand mehr auf der Bühne, aber Bewegung auf der sogenannten B-Stage, auf der das Vorprogramm stattfand. Hier tauchen Rammstein sowie die Pianistinnen von Jatekok auf und widmen sich dem „Engel“. Die Strophen wirken wie ein gemeinsam gesprochenes Gebet der sechs Musiker, während der Chorus vom Publikum übernommen wird. Phone-Lichter blinken, Gänsehautmoment. (In größeren Stadien wird auch hier kleines Komplettset aufgebaut.) Den Weg zurück ins Stahlgerüst der Bühne findet die Band mit drei Schlauchbooten. Auch das ein Rammstein-Ritual, aber die ruckelige Fahrt wirkt auch wie ein Zeichen ins Mittelmeer. Zumal mit „Ausländer“ einer der neuen Songs folgt, die dem bräsigen (Sex-)Westtouristen den hässlichen Spiegel vorhält.

Ohne Ansagen oder nennenswerte Unterbrechungen folgen sechs Zugaben. Bei „Du riechst so gut“ brennen die Rücken der Gitarreros und zum pornösen „Pussy“ reitet Lindemann seine Peniskanone und ejakuliert schließlich weißes Papier, dass sich auch über die Boxenmasten im hinteren Teil des Stadions überall hin verteilt. Das in »Rammstein“ „ein Mensch brennt“ zeigt sich schließlich am Feuerrucksack des Sängers, Hitze allüberall, es kracht, es dröhnt. 

Der vorletzte Song ist dann „Ohne Dich“, eines der besten Gedichte, die Lindemann je geschrieben hat, ein Lied von großer Kraft und Traurigkeit. Es gibt davon übrigens einen „Sacred Mix“ des Dresdner Komponisten Sven Helbig, für den der Musiker Scotty Böttcher zu den Tillmann’schen Gesangslinien die Silbermannorgel des Freiberger Doms spielt. Ein sehr bewegendes Stück Musik. Das Finale ist dann – natürlich – „Ich will“ mit allem Riff-Pomp, vielen Firewalls und den beliebten Wechselgesängen: „Könnt ihr mich hören? Wir hören dich!« Danach Schluss, Verbeugung, Abgang zur Klavierversion von „Sonne“, die auch im Abspann des „Deutschland-Videos zu hören ist, abrupt gecuttet von einem Megaböller. Licht an, Musikbeschallung an, Sturm auf die Merchstände.

Outro
Ein wenig bleibe ich noch, um zu verdauen. Dann spaziere ich durch die Nacht Richtung J-Hood und bekomme Durst. Aber den üblichen Dosenverkäufern will ich das Geld nicht geben, einer hat zudem die Onkelz im Speaker und verkauft schwarzrotgoldene Plastikpickelhauben und Deutschland-Schals. Als ich bei Susi’s vorbeikomme, die mal Acki’s war, mache ich etwas, das für mich sonst ein No-Go ist: Ich kaufe eine Flasche Bier und trinke es, während ich laufe. Das Pils reicht bis zur Haustür. Ein schöner Abend. Mein Herz brennt. Noch immer.
Uwe Stuhrberg

Rammstein 12. Juni, Dynamo-Stadion