Intensive Betroffenheit

Sven Helbigs »Requiem A« am 9. Februar in der Kreuzkirche

Die Tradition einer mehr als 800 Jahre alten Geschichte ist wohl der größte Schatz des Dresdner Kreuzchors. Doch was wäre Tradition ohne Erneuerung? Nahezu zwangsläufig lautet das Motto der aktuellen Saison »Im Wandel«. Was Fragen aufwirft, denn Stillstand gab es an diesem renommierten Knabenchor ja noch nie. Worin besteht nun also der Wandel? Ganz aktuell in einer Uraufführung von Sven Helbig.

»Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war …« Rudolf Mauersbergers Trauermotette ist nach der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 die erste künstlerische Reaktion auf diese Schrecken gewesen, die mit dem Angriff der Deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 ihren Anfang nahm und erst mit der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 ein Ende finden konnten. Wie mag dem Kreuzkantor angesichts der wüsten Stadt zumute gewesen sein? Was mag er, der auch 13 Kruzianer zu betrauern hatte, beim Komponieren empfunden haben?

Die Motette »Wie liegt die Stadt so wüst« erklingt traditionell in den Gedenkkonzerten zum 13. Februar und zählt untrennbar zum Repertoire des Kreuzchors. Dresdner Philharmonie und Sächsische Staatskapelle ergänzen das Besinnen auf die Sinnlosigkeit von Kriegen mit eigenen Konzerten, in denen regelmäßig die Requien von Mozart und Verdi, Beethovens Missa solemnis oder Rossinis Stabat mater auf dem Programm stehen. 2025, achtzig Jahre nach Dresdens Zerstörung und dem Ende des Krieges, führt die Kapelle unter ihrem Chefdirigenten Daniele Gatti das Verdi-Requiem auf (12. Februar), die Philharmonie setzt unter dem designierten Chef Donald Runnicles auf Benjamin Brittens »War Requiem« (13. Februar). Der Kreuzchor aber geht neue Wege und hebt - gemeinsam mit der Sächsischen Staatskapelle und dem Bass René Pape - das »Requiem A« von Sven Helbig aus der Taufe (9. Februar).

Ein Opus, dessen Titel so simpel wie verwirrend klingt. Wofür steht denn »Requiem A«? Sollen da ein Alpha und Omega angedeutet sein, ein Anfang und Ende, Hoffnung und Vergeblichkeit womöglich? Sven Helbig klärt auf und verweist auf eine ganz private Situation: Seine Tochter habe ihn gefragt, woran er gerade arbeite. Er sei mit einem Stück beschäftigt, das einen Weg aus der Trauer ins Leben suchen und ausdrücken soll. Er habe aber noch keinen Titel dafür gefunden. Der töchterliche Ratschlag: »Requiem A« könne für Anfang stehen, für Aufbruch vielleicht auch - und überhaupt sei das A der ursprünglichste aller menschlichen Laute und stehe nahezu auf der ganzen Welt am Beginn des Alphabets.

Der 1968 in Eisenhüttenstadt geborene Komponist und Mitbegründer der Dresdner Sinfoniker will mit seinem »Requiem A« an die Befreiung von Auschwitz und das Ende des Zweiten Weltkriegs, an die Zerstörung von Dresden sowie an den eigenen Großvater erinnern. Der ist kürzlich 98 Jahre alt geworden und habe sich anlässlich seines 97. Geburtstags ein Jahr zuvor mit persönlichen Rückblicken geöffnet, so Sven Helbig. »Das war im letzten Jahr eine ganz intensive Betroffenheit, als ich plötzlich gemerkt habe, es ist nicht nur mehr mein Großvater, der vom Krieg erzählt, sondern plötzlich ist man immer sehr schnell bei diesem Thema.« Der nicht mehr für möglich gehaltene Rückfall weiter Teile der Menschheit in militante Barbarei, in barbarischen Militarismus habe einen heftigen Denkprozess ausgelöst. »Und dann schrieb sich der Anfang meines Requiems wie von allein.«

Ohne der Uraufführung vorgreifen zu wollen, darf jetzt schon angenommen werden, dass Helbigs »Requiem A« dem Genre etwas Neues und bislang nie Dagewesenes hinzufügen wird. Das betrifft schon die Besetzung Chor, Orchester und Bassstimme. René Pape, einst selbst Kruzianer gewesen, wird diesen Solopart übernehmen. »Für mich ist das eine logische Weiterführung, die Idee eines Requiems in unsere Zeit fortzuschreiben. In dieser Musik steckt ja auch Hoffnung, dass es so kriegerisch nicht weitergehen kann.« Die neuerliche Zusammenarbeit mit dem Kreuzchor stehe für ihn auch als eine Wiederbegegnung unter völlig neuen Bedingungen, so der weltweit gefeierte Sänger.

Für Kreuzkantor Martin Lehmann gehe - just unter dem derzeitigen Motto »Im Wandel« - die chorische Erbepflege von Johann Sebastian Bach über Werke einstiger Kantoren von Gottfried August Homilius bis hin zu Rudolf Mauersberger »eben auch auf Neues, ganz Neues sogar« über. Sven Helbig werde mit seinem »Requiem A« eine neue Perspektive für die Stadt Dresden schaffen. Angesichts von 80 Jahren Kriegsende sei es wichtig, »dass wir als Dresden da auch einen Beitrag im nationalen, vielleicht sogar im europäischen Kontext setzen.« Schon im Probenprozess könne der Chor im engen Austausch mit dem Komponisten die Musik und deren Anliegen bestens verstehen, denn der Schöpfer dieses Requiems verfolge den Werdegang seines Werks und sei um keine Antwort verlegen. Ein ideales Herangehen.

»Svens Musik ist ehrlich«, betonte Martin Lehmann bereits nach den ersten Tonproben des neuen Werks. Dieses Requiem soll der Opfer von Kriegen gedenken und ein Mahnmal zur Versöhnung sein. Heute sei das dringender denn je. Martin Lehmann ist von der Kraft der Musik überzeugt. Für Sven Helbig sei das alles keine Selbstverständlichkeit.

»Ich habe mir nicht vorgenommen, dieses Format mal mit Musik aus so einer kompositorischen Idee heraus zu füllen. Es war wirklich der Gedanke, meine Güte, jetzt haben wir das Thema Krieg wieder mitten in Europa und es rückt immer näher, es beschäftigt uns, und dass wir das als Menschheit immer noch machen, dass wir das nicht in den Griff bekommen, das mal zu ächten, das ist doch entsetzlich!«

Der Komponist hat in seinem »Requiem A« auch visuelle Effekte vorgesehen und wird zudem bereichernde (oder gar verstörende?) Electronics beisteuern. Er glaube nach wie vor an eine Welt ohne Krieg. »Ich möchte nicht aufhören, daran zu glauben.« Auch deswegen soll dieses Requiem nicht nur Trauer verbreiten, sondern auch Hoffnung stiften, wird es nicht nur in Dresden erklingen, sondern schon bald auch mit den Wiener Symphonikern auf dem geschichtsträchtigen Heldenplatz in Österreichs Hauptstadt (8.5.) sowie im Oktober mit dem Birmingham Symphony Orchestra in der Kathedrale von Coventry aufgeführt werden. Denn auch Coventry lag einst so wüst und war fast ohne Volk.
Michael Ernst

Requiem A Gedenkkonzert des Dresdner Kreuzchores 9. Februar, 17 Uhr, Kreuzkirche
Mit Sven Helbig (Elektronik), René Pape (Bass), Dresdner Kreuzchor und Sächsische Staatskapelle Dresden
Programm:
Rudolf Mauersberger, »Wie liegt die Stadt so wüst«
Sven Helbig, Requiem A für Chor, Orchester, Bass und Elektronik (Uraufführung)
Tickets:
www.saxticket.de