Gut gemacht, altes Schildkrötentier!
Tortoise waren im Beatpol. Ein Rückblick
Vielleicht lag es bei ihrem Konzert Anfang Juni in der Kölner Kulturkirche am Veranstaltungsort. Ein Sakralbau soll eben den eindringlichen Ermahnungen eines Gemeindehirten Geltung verschaffen und neben dem Gemeindechor die Orgel zum Klingen bringen. Die enormen Nachhallzeiten eines solchen Gebäudes vertragen sich schlecht mit einer lauten, elektrisch verstärkten Bandformation. Noch dazu, wenn sie über weite Strecken rhythmisch kleinteilig spielt wie Tortoise.
Der Dresdner Auftritt jedenfalls war um ein Vielfaches überzeugender. Besser sogar als das Gastspiel vor gut fünfzehn Jahren an selber Stelle im Zusammenhang mit der damals aktuellen Albumveröffentlichung „Standards“, als der intensive Vibraphon-Einsatz (der die Band verdächtig in die Nähe der Lounge Music rückt, so wie diesmal im zweiten Konzertteil) nicht unbedingt bei jedermann auf Gegenliebe stieß. 2016 ist im Beatpol vor allem dieses deutlich geworden: Tortoise sind eine Rockband, bei aller berechtigten Begeisterung über die Anleihen bei der Neuen Musik im Gesamtsound aus Kraut, Dub und Elektronika! Das groovt und drückt körperlich nachvollziehbar von der Bühne, wie es King Crimson kaum besser hinkriegen könnten. Ende des ersten Teils schien es unausweichlich, dass es jetzt nur noch mit „In The Court Of The Crimson King“ weitergehen kann. Wenn der Progressive Rock von KC & Co erfolgreich in die Gegenwart transformiert wird, dann sicher nicht durch die Heerscharen ihrer Nachmacher, die sein wollen wie die Vorbilder. Sondern von Bands wie Tortoise, die der Tradition etwas Neues hinzufügen.
Die Musik steht bei den Amerikanern absolut im Mittelpunkt. Vorn am Bühnenrand, wo gewöhnlich der Sänger/ die Sängerin agiert, sind zwei Schlagzeugsets aufgebaut. Fast sah es so aus, als wollten sich die fünf Bandmitglieder regelrecht hinter ihrem Instrumentenpark verstecken, um in Ruhe ihrem Handwerk nachgehen zu können. Ein Chef, der als solcher erkennbar gewesen wäre, war nicht auszumachen. Mal ist es der eine, mal ein anderer, der das nächste Stück einzählt. Ständig werden reihum die Instrumente getauscht, ist der Bass plötzlich doppelt besetzt, wechseln die Schlagzeuger an diverse Keyboards oder Percussions. Das kollektive Musikmachen hat etwas Afrikanisches, die Musik fließt und fließt. Manchmal scheint ein Free Jazz-Riff der Gitarre auf, kurz darauf ein rätselhafter Elektrosound, ganz so, als hätten sie sich vorgenommen, dass es auf gar keinen Fall zwei Mal dieselbe Strasse runtergehen darf. Wie bei einem abstrakten Gemälde, das beim Betrachten ständig neue Facetten preisgibt, konnte man Tortoise zuhören, ohne dass Langeweile aufkommt. Gut gemacht, altes Schildkrötentier!
Zum Gelingen dürfte die neue technische Ausstattung des Beatpols beigetragen haben. Die alten Lichttraversen beeinträchtigen nicht mehr den Blick. Die Lautsprecherboxen hängen neuerdings am Bühnenrand, sodass auf der Bühne mehr Platz für die Musik ist. Und der Sound war echt super!
Bernd Gürtler
Tortoise 4. November, Beatpol