GRUPPENKUNSTKLÖPPELN FÜR FORTGESCHRITTENE
Review: John McLaughlin & The 4th Dimension in der Tante Ju
Ein sensationelles Konzert, ohne jede Einschränkung! Was von den Schallplatten durchaus wie schnöde Schaustellerei wirkt, verwandelt sich auf der Bühne in grandiose Musik. Die Stilelemente sind mehr oder weniger Standard und stehen jedermann frei zur Verfügung. Hardrock-Riffs, die hervorragend bei Deep Purple oder Masters Of Reality passen würden, verschmelzen mit Jazzanleihen oder indischer Musik. John McLaughlin und seinen The 4th Dimension-Mitstreitern aber fließt es nur so aus den Fingern, wie von unsichtbarer Hand geführt. Man staunt bloß und denkt, die können gar nicht anders, selbst wenn sie wollten. Ganz im Gegensatz zu denen, die sich zwar desselben Materials bedienen und liebend gern wollten, wenn sie nur könnten.
Fast war es wie Gruppenkunstklöppeln für Fortgeschrittene, aber auf ganz hohem Niveau. Die Beteiligten kennen die Stücke, sind also im Bilde, worauf es hinauslaufen soll. Einigkeit besteht weiterhin über das Wie, nämlich dass jeder sein überragendes handwerkliches Geschick vollumfänglich einbringt. Und dann werfen sie sich gegenseitig die Fäden zu, dass einem schwindlig wird. Die jeweils überaus komplexe Struktur entsteht endgültig erst beim Spielen. Wenn die Maschen des Deckchens geknüpft sind, stimmt jedes Detail, das Muster, die Farben, einfach alles. Unglaublich und oft sehr zur Überraschung des Publikums das Ganze.
Die Akteure selbst wussten selbstverständlich, was sie tun. Bassist Etienne M’Bappe, ausgestattet eher mit Pranken als mit Händen, glitt mit atemberaubender Fingerfertigkeit über die Saiten seines mächtigen Instruments. Ranjit Barot wechselte in einen ulkigen Scat-Gesang, sobald sich die Ausdrucksmöglichkeiten seines Schlagzeugs erschöpften, sprich mit Armen und Beinen kein Weiterkommen war. Hatte Gary Husband an den Keyboards nichts zu tun, klatschte er den Takt mit. Wer ihm zusah, bekam einen lebhaften Eindruck, auf welch verrückten Metren die meisten Stücke beruhen. Das eine oder andere Mal ist er an sein eigenes Schlagzeugset gewechselt, um mit Ranjit Barot um die Wette zu trommeln.
Jeder der drei hätte der Star des Abends ein können. Der Fokus jedoch, wie sollte es anders sein, lag auf John McLaughlin, dem Gitarrengenie, ehemals Mitstreiter von Miles Davis und Gründer des legendären Jazzrock-Ensembles The Mahavishnu Orchestra. Vor wenigen Wochen ist der gebürtige Brite fünfundsiebzig geworden. Das ergraute Haupthaar und sein sportliches Outfit aus hellblauem Freizeithemd, ziegelroten Jeans und weißen Laufschuhen ließ ihn wie einen Pensionär beim Strandurlaub aussehen. Munter ist er umher geturnt, so dass sein wahres Alter schnellstens in Vergessenheit geriet.
Ihm wurde der meiste Raum zugestanden. Sogar der sonst übliche Backline-Verstärker des Gitarristen war von der Bühne verbannt, offenbar um Platz für die Musik zu schaffen. Selbst im lebhaftesten Improvisationsgetümmel behielt John McLaughlin die Übersicht und war ansonsten in sein eigenes Spiel vertieft wie in ein gehaltvolles Buch. Mitunter flog ein Lächeln über sein Gesicht, gerade so als sei soeben ein elysischer Funke in ihn gefahren.
Wenn es eines Beweises bedarf, dass spirituelle Erbauung, gespeist aus fernöstlicher Philosophie einen Menschen weiterbringt, dann liefert er ihn wie kaum ein anderer. Carlos Santana versucht etwas Ähnliches durch seinen zutiefst individuellen Gitarrenton und das intensive Rhythmusgeflecht seiner in der Regel vielköpfigen Begleitbands zu vermitteln. George Harrison schrieb zum selben Zweck naiv missionarische Songtexte. John McLaughlin aber verkörpert es mit dem gesamten Wesen seiner Persönlichkeit.
Den Abend eröffnen sollte „Meeting Of The Spirits“ vom Mahavishnu-Orchestra-Debütalbum. Den Schlusspunkt setzte „You Know You Know“, ebenfalls auf „The Inner Mounting Flame“ erschienen. Dazwischen lag unter anderem „El Hombre Que Sabia“, eine Hommage an den 2014 verstorbenen Gitarrenkollegen Paco de Lucia. „Gaza City“ war ein Trauergesang auf eine vom Krieg zerstörte Stadt, der genauso gut Aleppo gelten könnte „Echoes From Then“ hieß ein Stück vom 2012er John McLaughlin-Soloalbum „Now Here This“. Wer erwartet hatte, dass nach mehr als neunzigminütiger Spielzeit Ermüdungserscheinungen bei den Musikanten zu beobachten sind, sah sich arg getäuscht. Eher schien es, als hätten sie ein erfrischendes Bad hinter sich gebracht.
Er sei jemand, der weiß, dass nicht er es ist, der spielt, sondern dass er von einer höheren Instanz gespielt wird, schrieb der britische Musikjournalist Charles Shaar Murray 1975 nach einem Konzertbesuch über John McLaughlin und bezeichnete ihn als Mann Gottes, der mit dem Bösen ringt, aber wirke „like a man serenely bathing in lightning because he knows that it’s on his side and will never hut him“. „Bathed In Lightning“ heißt auch eine von Colin Harper verfasste John McLaughlin-Autobiographie, die sein Schaffen bis einschließlich der ersten beiden Mahavishnu Orchestra-Besetzungen umfasst. Leider liegt der ungeheuer lesenswerte Fünfhundertseitenschmöker bislang nur in englischer Sprache vor. Aber wer weiß, vielleicht ist es ein Ansporn. Dann brauchte John McLaughlin beim nächsten Mal nicht davon auszugehen, dass Dresden, über seine Grenzen hinaus für wer weiß was bekannt, eine Stadt ist, wo er sich sicherheitshalber um deutsche Ansagen bemühen muss. Und das nächste Konzert wird es hoffentlich geben, schon bald.
Bernd Gürtler
John McLaughlin & The 4th Dimension 10. März, Tante Ju