Fantasie leben

 

Der Scheune-Schaubudensommer geht in seinen 16. Jahrgang.
Ein Treffen mit Buden-Direktor Helmut Raeder

Es geht hinter der Scheune wieder los, das Gewerkel und Gebastel und Gemale – schließlich beginnt hier am 4. Juli der traditionelle Schaubudensommer, und es ist bereits der 16. Jahrgang. Das ist durchaus Grund genug, sich auf einen Kaffee zu treffen mit jenem Mann, der von Anfang an die Geschicke dieses Spektakels in der Hand hält: Helmut Raeder. Und der hatte schließlich bereits mit sechs Jahren ein Schaubuden-Urerlebnis. ###MORE###

Da steht der kleine Helmut also auf dem Marktplatz von Lauchhammer-Mitte vor einem alten Leinwandzelt, davor ein schwarzhaariger, goldzahniger Fahrensmann, der für ein paar DDR-Pfennige Einlass gewährte. Zu sehen gab es: »Einen riesengroßen toten stinkenden Wal, mit dem eine Zigeuner-Familie durch Osteuropa zog. Das war sozusagen meine erste Schaubude«, erinnert sich Helmut Raeder mit einem Schmunzeln. In den 80er Jahren wird er dann selbst zum Wandervogel: Mit der Truppe »Spieltour« ist er in der ganzen DDR unterwegs, um auch in tristen Neubaugebieten »mit einer Mischung aus Musik, Spiel, Puppentheater und bildender Kunst kleine Momente des besonderen Vergnügens zu schaffen. Da hat dann in einem Zelt Peter Waschinsky Puppen gespielt, Rainer König Pantomime oder es gab Minikino.« Schon damals trifft er Heiki Ikkola, den Regisseur, Schau- sowie Puppenspieler und seit 2001 Raeders Compagnon bei der künstlerischen Leitung des Schaubudensommers. »Wir haben uns seit damals nie aus den Augen verloren – irgendwie war es folgerichtig, dass wir hier zusammenfinden, denn unsere Ansprüche sind sehr ähnlich.«

Mit der Wende ist Helmut Raeder Mitbegründer des Zirkus Luft. »Auch hier war der Ansatz: Die Kultur auf die Straße tragen und mit den Leuten etwas anstellen.« Von Schaustellern der Vogelwiese werden wenig später Wagen gekauft, und am Schloss Nickern entsteht das Abenteuer-Spiel-Projekt »Eselsnest«. »Dort haben wir dann auch Sommertheater gemacht, aber es kamen nur wenige, weil das einfach zu weit vom Schuss lag. Also suchten wir nach einem Platz, an dem man so ein Konzept aus Theater, Zirkus, Musik, Festival und Vergnügen besser umsetzen kann, da schien uns die Wiese hinter der Scheune der geeignete Platz zu sein.« Zudem war der Zeitpunkt bestens: Der damalige Programmchef der Scheune hatte gerade aufgehört, einer neuer war noch nicht da – und mitten in die Sommerüberlegungen des Hauses stand Helmut Raeder mit seiner Schaubuden-Idee in der Tür.

Schon zu der Zeit schaute er sich in der internationalen Szene um, sammelte viel Wissen und Kontakte in ganz Europa, was ihm später auch beim Wandertheaterfestival in Radebeul zugutekommen sollte.

Wer nun aber glaubt, dass der Schaubudensommer von Anfang an ein Publikumserfolg war, hat sich geirrt. Denn der Kampf um das Interesse der Dresdner, die dem Neuen gegenüber ja oftmals zurückhaltend gegenüberstehen, ging über Jahre. »Ich kann mich noch genau an den ersten Abend erinnern. Bis eine halbe Stunde vor Öffnung haben wir noch gewerkelt«, erzählt Helmut Raeder, »dann schlüpfte ich in meinen Smoking und stellte mich vor die drei Zelte, die wir damals hatten, um das Publikum zu begrüßen. Der Biergarten der Scheune war voll, und in meiner Naivität dachte ich, die Leute würde nur warten, bis es bei uns losgeht. Aber: Die blieben da sitzen, das war schon etwas grausam. Zehn nach acht ging schließlich das Tor auf – unser erster Besucher war: ein Hund.« In der ersten Fünf-Tage-Saison kommen dann aber doch noch ein paar Leute, und das Fazit lautete: Es war schwierig, es hat Spaß gemacht, wir versuchen es wieder. »Man muss dabei auch unbedingt erwähnen, dass die Scheune uns von Anfang an logistisch sehr gut unterstützt hat, das hat wirklich geholfen.«

Jahr für Jahr wachsen dann Publikumszahl und Angebot im Gleichmaß. Dank Heiki Ikkolas programmtischer Mitarbeit bekommt der Schaubudensommer im neuen Jahrtausend noch einen kreativen Schub in die Breite, sodass das Angebot heute im Wortsinne platzfüllend ist. Und seit einigen Jahren gibt es einen derartigen Run auf das Areal, dass ab 20.30 Uhr Uhr ein allgemeines Eintrittsgeld von 2 Euro erhoben wird, um den Ansturm zu kanalisieren.

Programmatisch soll der Schaubudensommer auch weiterhin eine Wundertüte bleiben und viele Genres der darstellenden und bildenden Kunst vereinen. So sind auch in diesem jahr wieder einige langjährige Vertraute im Programm zu finden: das stattTheater Fassungslos etwa gehört von Anfang an zu den Mitstreitern, auch Derevo  sind wieder dabei, ebenso wie Annamateur, die in der Schaubude die ersten Schritte ihrer Solokarriere ging. Dazu kommt jede Menge Neues zwischen Theater, Musik, Clownerie, Experiment, Pantomime – eine Aufzählung würde hier den Rahmen sprengen. »Das Entdecken von Künstlern, die Suche nach dem Unbekannten – und diesem dann hier Raum zur Entfaltung zu geben, das ist das eigentlich Reizvolle«, schwärmt Helmut Raeder. »Gleichzeitig sind wir aber auch jenen treu, die alles mit aufgebaut haben, und manchmal auch stolz, wenn wir richtige ›Stars‹ im Programm haben. Wichtig für alle jedoch ist: Sie können hier ihre Fantasie leben – mit dem Publikum.« Faszinierend ist zudem der allabendliche Kampf um das Publikum und wie in ganz kurzer Zeit der Buschfunk herumflüstert, was man unbedingt sehen muss und was man sich eher sparen kann.

Und gab es auch für Helmut Raeder jene magischen Momente, die einem im Kopf hängenbleiben? »Ja, da gibt es viele. Etwa wie das israelische Clipa-Theater mit Engeln über dem Platz schwebte und alle Anwesenden in eine Art Parallelwelt versetzte. Oder die ersten Auftritte von Annamateur. Sie hatte es in nur drei Tagen geschafft, sich eine Fangemeinde zu erspielen, und nach ihrer letzten Vorstellung ließen Fans auf sie Rosenblätter und Geldscheine herunterschweben – das war sehr berührend und auch tränenreich.«

Bleiben am Ende nur zwei Dinge zu erwähnen. Erstens: Einmal, ja einmal gab es auch einen Schaubudenwinter, ein Experiment, das leider nicht aufging, weil »es wirklich Winter war und wir nur Schnee geschippt und Heizholz geschleppt haben. Es gab sogar Gäste, die kamen mit Skiern.« Zweitens: Ein kleiner Schatten liegt in der Zukunft: Durch die Bauarbeiten an der Schulturnhalle ist noch unklar, wo der Schaubudensommer im kommenden Jahr stattinden wird.

Aber auch da wird Raeder, Ikkola & Co. was einfallen. Sicher.
Uwe Stuhrberg

Schaubudensommer 4. bis 14. Juli, 20 Uhr, Scheune, www.schaubudensommer.de