Er hatte einen Standpunkt

Jan Maihorn über sein Rio Reiser-Orchesterprojekt mit Anna Mateur am 23. August im Alten Schlachthof

Hätte schlichtes Kalkül hinter Rio Reisers Wandlung vom engagierten Rocksänger zum „König von Deutschland“ gesteckt, wer würde zwanzig Jahre nach seinem Tod noch über ihn reden? Sich von den rebellischen Slogans seiner Ton-Steine-Scherben-Klassiker beflügeln lassen? Mit Begeisterung seinen Pophits zujubeln? Oder gar ausgewählte Songs aus seinem Nachlass für sinfonisches Orchester umarbeitet? Jan Maihorn jedenfalls weiß, weshalb er sich der Mühe unterzog. Geeignete Partner fanden sich in der Dresdner Sängerin und Songschreiberin Anna Mateur sowie der Thüringer STÜBAphilharmonie. Das Programm unter dem Motto „Dahin! Andere Lieder von Rio Reiser“ erlebt vorerst zwei Aufführungen. Eine davon ist am 23. August für den Alten Schlachthof in Dresden vorgemerkt.

Wie kommt es, dass sie Orchesterfassungen von Rio-Reiser-Songs auf die Bühne bringen?
Das Theater in Stralsund organisierte 2013 ein Schülerprojekt, benannt nach dem Rio-Reiser-Song „Mein Name ist Mensch“, mit Tanz, einer Rockband und Orchester. Die Orchesterversionen kamen von mir. Schon während der Arbeiten dachte ich, dass es natürlich gut ist, wenn sich Schüler mit Rio Reiser beschäftigen. Aber zeitweise sind bis zu hundert Akteure auf der Bühne gewesen, dazu die Rockband, das Orchester. Dem Publikum wurde einiges zugemutet. Hinterher meinte jeder, der Tanz war toll, die Musik war toll. Man wusste gar nicht, worauf man zuerst achten sollte. Das blieb bei mir hängen, und ich beschloss, das als reines Orchesterkonzert anzubieten.

Wie ging es weiter?
Wegen der Veranstaltung in Stralsund nahm ich Kontakt zu Rios Bruder und Nachlassverwalter Gert Möbius (siehe Interview) auf, zur Klärung, welche Stücke wir unter welchen Voraussetzungen verwenden dürfen. Nachdem ich eine Beleg-CD unserer Aufführung zugeschickt hatte, war bei ihm offenbar der Eindruck entstanden: Okay, hier scheint jemand zu sein, der sich ernsthaft und handwerklich profund mit der Sache beschäftigt. Daraufhin wurde ich vergangenes Jahr zunächst gefragt, ob ich nicht für das 16-CD-Set „Blackbox“, das im Oktober erscheinen wird, die Bearbeitung von Rios Stadtoper „Das Wasser des Lebens“ übernehmen wollte. Naja, und dann hat es noch gedauert, sich die Mitstreiter für mein Orchesterprojekt fanden.

Wie sind sie auf Anna Mateur gekommen?
Ich war auf der Suche nach einem Orchester. Das Filmorchester Babelsberg wäre eine Option gewesen, das hat einen Bezug zu Berlin und arbeitet häufiger mit Größen aus Rock und Pop. Aber ich wollte unbedingt eine Sängerin, keinen Sänger. Viele sind mir nicht eingefallen, die es mit einem Orchester aufnehmen können. Ich bin 2010 nach Dresden ans Staatsschauspiel gekommen. Wer in der Stadt lebt, wird früher oder später auf Anna Mateur aufmerksam. Man kriegt sie mit, geht zum Auftritt, und da fand ich eben, dass sie jemand ist, dem man Rios Texte sofort abnimmt. Und, dass sie hervorragend mit einem Orchester zurechtkommen würde.

Hat ihre erste Begegnung mit Anna Mateur wirklich so stattgefunden, wie sie es erzählt? Dass sie sich zufällig in der Neustadt im Dicken Schmidt begegnet sind?
Ja, ich bin zu ihr hingegangen und habe gefragt, ob wir mal reden können. Das hat sie dann eine Weile liegen lassen, bis sie für ihre erste Show mit dem Büro für Ordnung und Chaos einen Gitarristen brauchte. Am Abend vor der Premiere rief sie an, ob ich nicht vorbeikommen könnte. Ich dachte mir, genauso sollte man es doch machen, wenn das schon Büro für Ordnung und Chaos heißt. Wir haben einige Zeit ihre Show gespielt, uns über meine Rio-Reiser-Idee ausgetauscht, und irgendwann auch die STÜBAphilharmonie begeistern können.

Wie sind sie ursprünglich mal auf Rio Reiser gestoßen?
Ich bin in Ostberlin geboren und Anfang der neunziger Jahre in Berlin-Mitte zur Schule gegangen. Damals lief schon das erste Ton Steine Scherben-Revival. Ein, zwei Jahre lang war das Standard am Lagerfeuer, das musste man drauf haben. Da ich der Gitarrenhorst war, wurde das von mir erwartet. Das Solowerk hat mich über Familie und Freunde erreicht. Seit dem Schülerprojekt in Stralsund habe ich mit intensiv mit seiner Musik beschäftigt.

Konnten sie ihn noch zu Lebzeiten im Konzert sehen?
Er ist 1996 gestorben, damals war ich in der zwölften Klasse. Prinzipiell hätte die Möglichkeit bestanden. Aber zu diesem Zeitpunkt sind Jimi Hendrix und Frank Zappa für mich wichtiger gewesen.

Was finden sie interessant an Rio Reiser?
Dass er ein Visionär war und trotzdem Humor hatte. Dass er sich als Popstar nicht allzu ernst genommen hat, sondern greifbar war, wenn es um politische Aussagen ging - ob es sein Schwulsein betraf oder Umweltthemen. Wenn es darauf ankam, hat er Haltung gezeigt. Bei anderen Rockstars seiner Generation vermisse ich das. Einige sind auch ganz in Ordnung, haben sich aber viel zu oft irgendwo mitschleifen lassen. Rio hatte, ich will nicht sagen einen Klassenstandpunkt, aber einen Standpunkt.

Welche Songs stehen auf dem Spielplan des Orchesterprojekts?
Mir ist aufgefallen, wenn man auf eine Rockband verzichtet und sich dem reinen Orchesterklang widmen will, sollte man auf Ton Steine Scherben besser verzichten. Weil es albern wirkt, dort mit dem Orchester etwas imitieren zu wollen. Entweder man dreht das komplett ins Gegenteil oder wird extrem oder lässt es lieber. „Macht kaputt was euch kaputt macht“ oder „Keine Macht für niemand“, das sind Songs, die sind wie sie sind. Aber in seinem Solomaterial fand sich genug Auswahl. Tolle Songs, die interessante Geschichten erzählen und nachdenklich machen. Die Leute kennen beseelte Liebeslieder wie „Junimond“ oder die lustigen wie „König von Deutschland“. Aber die stillen Sachen, sowas wie „Eislied“ oder „Vier Wände“ sind weniger bekannt. Ich dachte mir: Suchen wir doch genau dort.

Vielleicht noch eine Bemerkung zur STÜBAphilharmonie? Dass das Orchester gemeinsam mit Clueso aufgetreten ist, dürfte bekannt sein. Aber was ist das Besondere an dem Klangkörper?
Die STÜBAphilharmonie ist außergewöhnlich. Die Mitglieder bekommen keine Gage, sondern bezahlen einen Mitgliedsbeitrag, dass sie dabei sein dürfen.

Wie bitte?
So haben sie sich gegründet, mit der Zielsetzung, dass sie sich selbst aussuchen, was sie einmal im Jahr machen, dass das genau das ist, was sie machen wollen. Dass sie unabhängig bleiben von allen, die ihnen Vorschriften machen könnten. Sie sagen: Wir finanzieren uns selbst. Wir schaffen uns einen Topf, aus dem wir das Probenlager bezahlen. Was sich bei siebzig Leuten schnell multipliziert: Transport, Übernachtung, Verpflegung. Aber sie sind der Meinung, sie machen das lieber so. Ich denke, dass das sehr im Sinne von Rio gewesen wäre.
Bernd Gürtler

Dahin! Andere Lieder von Rio Reiser mit Anna Mateur und der STÜBAphilharmonie
23. August, 20 Uhr, Alter Schlachthof
Tickets: www.saxticket.de
www.maista.net