Ein glücklicher Mensch
Ein SAX-Gespräch mit Bernd Aust zum achtzigsten Geburtstag
Von seinem Wohndomizil oben in den Hanglagen am südlichen Stadtrand bietet sich ein hübscher Rundblick über Dresden. Bernd Aust hat die sächsische Elbmetropole populärmusikalisch geprägt, als Bandleader der Rockformation Electra, als Gründer der Agentur Aust Konzerte. Befragt nach seiner Lebens- bilanz zum achtzigsten Geburtstag, muss er nicht lange überlegen.
SAX: Es gibt ein legendäres Foto von dir und Jethro Tulls Ian Anderson, jeder mit seiner Querflöte. Wie kam das?
Bernd Aust: Ein Fotograf und ich fuhren nach Würzburg, Jethro Tull sind dort aufgetreten. Direkt im Anschluss veranstaltete meine Agentur ein Konzert der Band in Dresden, das dritte nach der Wende, der Kartenvorverkauf lief schleppend. Eine Dresdner Tageszeitung wollte mich auf der Titelseite bringen. Ich gab zu bedenken, dass ich gar nicht auftrete. Wenn, dann höchstens ein Foto mit Ian Anderson zusammen. Wir fuhren also nach Würzburg, Ian Anderson ließ sich mit mir ablichten und wir hatten eine ausverkaufte Hütte in Dresden.
SAX: Von Ian Anderson vielfach kolportiert ist die Geschichte, dass er eigentlich Gitarrist werden wollte, jedoch einsehen musste, einem Eric Clapton niemals das Wasser reichen zu können, weshalb er seine Gitarre gegen eine Querflöte eintauschte. Wie bist du zu dem Instrument gekommen?
Bernd Aust: Bei uns zu Hause war kein Platz für ein Klavier. Mein Vater spielte Akkordeon, ich wollte auch Musik machen und lernte ebenfalls Akkordeon. Mein Cousin, der über uns wohnte, spielte Klarinette und ich dachte, das wäre auch was. Ich besuchte damals schon Auftritte der Dresdner Tanzsinfoniker und fragte Friwi Sternberg, ob er mir Klarinettenunterricht geben würde. Ja, sagte er, zwei Ostmark die Stunde, damit ich wüsste, weshalb ich zu ihm komme. Ich verspürte immer einen Hang zum Jazz und stieß auf Roland Kirk, von dem Ian Anderson ebenfalls behauptet, beeinflusst zu sein. Roland Kirk spielte drei Saxofone auf einmal und blies die Querflöte wie ich später auch. Ich lernte Querflöte, nur um festzustellen, dass das, was ich konnte, gar nicht gefragt war. Zum Glück stießen wir auf Jethro Tull und fühlten uns wohl, als wir die covern konnten.
SAX: Bei Electra im Programm war sogar Jethro Tulls knapp fünfundvierzigminütiges »Thick As A Brick«, und zwar komplett!
Bernd Aust: So gut wie komplett. Das Stück enthält eine Passage, die wir langweilig fanden und wegließen. Keiner merkte es. Der Progressive Rock von Genesis, Gentle Giant, Yes, King Crimson oder Jethro Tull, das war genau unser Ding.
SAX: Dresden galt als Hochburg des Progressive Rock, angeblich wegen der Lage der Stadt im sogenannten Tal der Ahnungslosen – geschuldet dem arg beschränkten Westradioempfang zu DDR-Zeiten hätten es die Dresdner einfach nicht besser gewusst.
Bernd Aust: Für uns Musiker war das Tal der Ahnungslosen eher ein Glücksfall, würde ich sagen. Wir sind vom Schlagereinerlei des Westradios verschont geblieben. Wer sich ernsthaft für Musik begeisterte, musste Schallplatten kaufen. Westschallplatten wohlgemerkt, auf dem Schwarzmarkt zu Preisen von einhundert Ostmark aufwärts. Logisch, dass wir uns nur Hochwertiges besorgten. Und das war was Anfang der Siebziger-Jahre? Progressive Rock, ganz klar.
SAX: Unter Electras eigenen Stücken sind nicht wenige, die für die Ewigkeit gemacht scheinen. »Das kommt, weil deine Seele brennt« zum Beispiel, gesungen von Peter Ludewig, eurem Schlagzeuger.
Bernd Aust: Seine Stücke schrieb er meistens zusammen mit Keyboarder Rainer Uebel. Woher die Inspiration für den Songtext kam, weiß ich nicht mehr. Peter Ludewig war sehr belesen, mochte Gedichte. Ich hielt »Das kommt, weil deine Seele brennt« für einen Song unter vielen. Erst im Nachhinein entfaltete sich seine Wirkung. Was für ein genialer Sänger Peter gewesen ist, wurde mir 2021 auf seiner Beerdigung wieder bewusst, als seine Songs von Tonkonserve liefen. Das stand so für sich, die Wirkung war kolossal.
SAX: Von Peter Ludewig kam auch »Der grüne Esel«, nach einer Gedichtvorlage von Christian Fürchtegott Gellert.
Bernd Aust: Rhythmisch anspruchsvoll, nicht leicht zu spielen, aber ein Knaller.
SAX: Wie war »Tritt ein in den Dom« entstanden?
Bernd Aust: Das geht zurück auf Czesław Niemen und seine Art, Hammond Orgel mit Chorgesang zu verbinden. Ein Konzert von ihm, das ich im Dresdner Kulturpalast erlebte, fand ich enttäuschend. Aber wir kannten seine Schallplatten und in so einer Richtung wollten wir was machen. Die Textidee kam wieder von Peter Ludewig, er brachte ein Gedicht zum Thema mit und sang das Stück zuerst. Aber damals stieß Stephan Trepte zu Electra. Weil er neu war, brauchten wir etwas für ihn und er interpretierte »Tritt ein in den Dom« hervorragend. Aufgenommen wurde im Studio von Radio DDR in Leipzig, auf einer Vierspurtonbandmaschine. Die Tontechniker mussten zaubern, damit das Stück klingen konnte, wie es klingt. Und dann passierte etwas, das uns traurig, aber unsterblich machte. Nachdem »Tritt ein in den Dom« im DDR-Rundfunk bereits gelaufen war, wurde es verboten.
SAX: Die Obrigkeiten unterstellten Propaganda für die Kirche, und dem real existierenden Sozialismus der DDR galt die Kirche als Teufelszeug.
Bernd Aust: Dabei geht es gar nicht um Kirche, jeder Bauingenieur wüsste sofort Bescheid, was gemeint ist. Ich wollte nichts unversucht lassen und fuhr zum Rundfunk nach Berlin, um zu erklären, dass der Song von der Erhabenheit eines Bauwerks handelt, wofür sich ein Dom als universellste Metapher anbietet. Ein Verantwortlicher zeigte mir bloß zwei Wäschekörbe und meinte, das sei die gesamte Post, die eingegangen ist, weil »Tritt ein in den Dom« nicht mehr im Radio lief. Erst auf unserer dritten Langspielplatte konnten wir es veröffentlichen. Aus zahllosen Künstlerbiografien weiß ich inzwischen, auch im Westen hat nicht die grenzenlose Freiheit geherrscht.
SAX: Wie kam Stephan Trepte zu Electra?
Bernd Aust: Während der Entstehung von »Tritt ein in den Dom« sind wir in Pockau-Lengefeld aufgetreten. Stephan mit seiner Band und wir hatten offenbar schon einen Namen. Er weigerte sich, den Abend zu eröffnen. Er wollte sich nicht abkochen lassen, wie er es ausdrückte, ließ sich aber doch überreden und sang Czesław Niemen nicht unähnlich. Ich dachte, das ist unser Sänger! Nach dem Auftritt fragte ich ihn, ob er bei Electra einsteigen wollte. Er ließ mich kommentarlos stehen. Seinen Bandkollegen erzählte er, was für ein arroganter Arsch der Aust ist. Jetzt will der mich endgültig fertigmachen und fragt mich, ob ich zu Electra komme. Das Missverständnis klärte sich recht schnell und ähnlich Peter Ludewig war er ein überragender Sänger. In »Tritt ein in den Dom« musste er erst reinwachsen, später sang er das mit mehr Lebenserfahrung. Auf seiner Beerdigung 2020 lief die Originalfassung aus dem Jahr 1972. Jemand fragte, wer der Sänger sei, damals wirkte Stefan Trepte noch sehr jung.
SAX: Außergewöhnlich ist auch »Die Sixtinische Madonna«, nicht nur im Repertoire von Electra. Genaugenommen ist die Komposition zum berühmten, gleichnamigen Renaissancegemälde ein Oratorium, im Progressive Rock sehr selten.
Bernd Aust: Ich nenne es Rocksuite. Aber gut, ein Oratorium, ich fühle mich gleich noch mehr geehrt.
SAX: Immerhin spielt ein Chor eine tragende Rolle oder nicht?
Bernd Aust: Ja, der Chor. Ich hatte festgestellt, dass Klassikorchester bei Kooperation mit Rockbands bloß als Soundfarbe dienen, siehe Deep Purples »Concerto For Group And Orchestra«. Das wollte ich nicht wiederholen, deshalb der Chor.
SAX: Nach dem Wendeherbst von 1989 blieb das Publikum schlagartig weg, kam nach und nach aber zurück. Trotzdem wurden Electra von dir 2015 in den Ruhestand geschickt.
Bernd Aust: Dass das Publikum wegblieb, verstand ich vollkommen verständlich, die Leute wollten nachholen. Als das Publikum zurückkam, kam es nicht im selben Umfang wie vorher, aber wir hatten unseren Spaß. An meinem siebzigsten Geburtstag fand ich trotzdem, dass es Zeit war, die Band aufzulösen. Man kommt an einen Punkt, wo man merkt, dass bei einigen manches nicht mehr gut geht. Einmal im Jahr treffen wir uns noch bei uns im Garten auf ein Gläschen Wein, den meine Frau und ich hinterm Haus selbst anbauen.
SAX: Mit deiner Agentur hast du die Seiten gewechselt. Welche Künstler gehören zu deinen Highlights als Konzertveranstalter?
Bernd Aust: Jethro Tull natürlich, Mark Knopfler und Chicago, wenn ich das von meinem Musikerstandpunkt sagen sollte. Als Veranstalter fällt mir die Auswahl schwer, es sind zu viele Künstler.
SAX: Aust Konzerte sind auch die Veranstalter des viertägigen Konzertmarathons von Rammstein zu Pfingsten 2024 gewesen. Irgendwelche Bauchschmerzen wegen des Skandals um Till Lindemann gehabt?
Bernd Aust: Wir als Agentur stehen in der Pflicht gegenüber der Band und dem Publikum, die vier Konzerte sind ausverkauft gewesen. Und der Skandal um Till Lindemann ist ein laues Lüftchen gewesen gegen die Auflagen der Dresdner Stadtverwaltung.
SAX: Ende Januar 2025 steht dein achtzigster Geburtstag an. Welche Bilanz ziehst du?
Bernd Aust: Ich bin ein glücklicher Mensch und würde gern die Gelegenheit nutzen, meiner Frau zu danken. Als Musiker bin ich viel unterwegs gewesen, sie hat unsere beiden Söhne großgezogen, wir haben ein Haus gebaut. Es war Arbeit ohne Ende. Das Tragische ist, wenn alles geschafft ist, ist man alt. Aber das geht jedem so.
Interview: Bernd Gürtler