Die gemeine Flucht vorm Bürger

Die verzögerten politischen Reaktionen zwischen Vernunft und Aktionismus versus Chaos und Angst

Diesmal kann keiner hinterher sagen, er habe von nichts gewusst. Vor allem kein Dresdner. Denn seit 25. Januar tickt die lokale MoPo im informellen Virusrhythmus. Jenes Boulevardblatt, das sich als Netzschleuder schlicht Tag24 nennt, dabei bundesweit ausbreitet und als kostenloser Bild-Kontrahent auf reine Reichweite setzt. Mit knallbuntem Kacheldesign und vielen wehtuenden, also echten Schlag-Zeilen versetzt, wartet seither der Corona-Ticker als totaler Klickhai.

Als diese Zeilen mühsam gerinnen, steht er in der dritten Auflage bei rund fünfeinhalb Millionen Klicks und berichtet über den Spiegel, der über sechs Millionen Schutzmasken, angeblich in Kenia spurlos verschwunden und »über« die Bundeswehr bestellt, informiert. Und: »Mittlerweile gibt es 29.131 bestätigte Infektionen in Deutschland und 123 Todesfälle (Stand 24. März, 9 Uhr).« Das taugt als griffiges Erfolgsrezept, garniert mit kräftigen Grafiken, täglich sauber erneuert, meist in reinem Nachrichtendeutsch und durchaus mit weitem Horizont, dabei in der Flut nicht überbordend. Kurzum: Der Ticker kann gut als Zeitchronik dienen.

Blicken wir kurz zurück: Die erste Phase startete am 25. Januar und lief, als andere noch von diversen Demos oder über die Land-unter-Lage in Thüringen tickerten, eher moderat, aber durchaus spannend, weil überaus international, genreübergreifend und samt den offiziösen Beschwichtigungen. Der 16. Januar und der 18. Februar als womögliche Startpunkte für die Virenherdausbrüche in China und Italien konnten dabei aus logischen Gründen nicht erfasst werden, weil im Liveticker retrospektive Ergänzungen nicht viel Sinn ergeben.

Es gab an jenem 25. Januar zum Start je drei Fälle in Frankreich und Japan plus 1.372 in China, dort schon 41 Opfer. In Hamburg sähe man sich gut gewappnet, in Bayern sei nicht geplant, etwas an den Coronavirus-Vorkehrungen zu ändern, heißt es. Am Tag darauf ein großer Warnruf: Die Disneyländer in Shanghai und Hongkong machen zu, die USA haben fünf Fälle, am Morgen danach sackte der DAX um 1,44 Prozent (auf 13.382 Punkte) und auch Brandenburg sah sich dank Ostberliner Charité für den Ernstfall vorbereitet.

Dann, am 28. Januar, gibt es den ersten infizierten Deutschen in Oberbayern, der CDU-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn nimmt diesen als Beweis dafür, dass Deutschland gut vorbereitet sei und »die Gefahr für die Gesundheit der Menschen in Deutschland« laut Robert-Koch-Institut weiterhin gering sei. Dennoch ward das Chinesische Frühjahrsfest in Duisburg (Partnerstadt Wuhan) abgesagt und (anonymen) Forschern sei es gelungen, das »tödliche Virus« nachzuzüchten, um am Gegenmittel zu arbeiten.

WHO: Weltweite Notlage ab 30. Januar
Am 30. Januar verkündet die WHO eine »gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite« – es gibt in rund 20 Ländern außerhalb Chinas rund 100 Infektionen, davon vier in der BRD. Tags darauf erklären sich deutsche Krankenkassen bereit, die Virentests zu bezahlen und die Erfassung der Verdachtsfälle beginnt hierzulande. Donald Trump folgt der WHO per »Präsidialproklamation« prompt – nach nur 191 Tests, davon sechs positiven. Das sind so viele Fälle wie in Bayern.

Am 19. Februar kommt Sachsen erstmals vor: SPD-Wirtschaftsminister Martin Dulig sorgt sich um hiesige Firmen und deren Außenhandel mit der Volksrepublik als größtem Auslandsmarkt. Am 22. Februar sterben die ersten beiden Italiener – es ist die erste Erwähnung des Landes, die nächste folgt mit der Absage des Karnevals in Venedig am Tag darauf, außerdem wird der Dreh zu »Mission Impossible« (Teil 7) verschoben.
Der erste MoPo-Tickeraufschlag endete am 24. Februar um 12:38 Uhr und zeigt über 200.000 knallrote Augenaufschläge. Da waren in Italien vier, im Iran zwölf und in China 2.592 Menschen tot. Der zweite Teil begann sofort danach, ging dann nur bis zum 5. März, 18:33 Uhr und erreichte bislang rund 155.000 Besucher. Er enthält viele weitere Warnschüsse: Absagen von Messen, Corontäne auf Schiffen, Einstellung von Flugrouten, Abriegelung von Hotels, Weihwasserablass in Salzburg und Köln, erste Fälle bei Hunden, dazu bei Hambürgern und Neuseeländern, bei Hessen und Brasilianern – sowie im Kreis Heinsberg. Karneval und Kreuzfahrt scheinen gute Brutstätten zu sein, frühere Winterferien hingegen für einige Bundesländer (auch rund um Sachsen) ein Segen.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) plädiert am 28. Februar bei einem CDU-Empfang im Stralsunder Wahlkreis für »Maß und Mitte«: Es sollten nicht alle Veranstaltungen abgesagt werden. Just als Italien die Zahlen 888 (als Fälle) und 21 (als Tote) meldet – mit einem Foto vom Venediger Mundschutzgondeln illustriert. Zwei Tage später verdoppeln sich die deutschen Fälle, im Pariser Louvre streiken die Mitarbeiter, Frankreich verbietet Veranstaltungen mit mehr als 5.000 Menschen, das EU-Parlament streicht seine Besucherangebote, erste Todesmeldungen kommen aus Australien und den USA – und Sachsen, Thüringen und Brandenburg melden am 2. März jeweils ihren ersten Patienten.

Spätestens aber, als die Leipziger Buchmesse – es geschah am 3. März, 14.15 Uhr per Pressemitteilung – als erster großer sächsischer Tiefschlag abgesagt wurde, musste jedem klar sein: Es wird echt ernst. Zuerst für Verlage, Autoren und Leser – also der Bastion unserer Kultur. Hier beginnt eigentlich der sächsische Kulturkotau. Wenn man gnädig ist, kann man diesen noch auf den Vorabend der Messe, also den 11. März 2020 verschieben, an dem traditionell »Leipzig liest« in der Moritzbastei gestartet wäre. Es werden mehrere folgen: Kulturentzug, Bildungsentzug, Menschen-, Drogen- und Sportentzug, Jobentzug.

Bis dahin waren Dialektiker unter den Materialisten noch im argen Zweifel: Tut das wirklich not? Warum sollte man sich denn sorgen, wenn der Anstieg der Infizierten – in Sachsen heißen die Patienten offiziell »Laborbestätigte Fälle (elektronisch übermittelt)« und bleiben am Wochenende wegen Nichtmeldung einiger Gesundheitsämter in Summe pro Landkreis oder Großstadt gern mal gleich – nur die Testmöglichkeiten misst? In Sachsen startete die Laborhöchstleistung mit 700 und beträgt zum Redaktionsschluss 1.500 pro Tag. Stärker kann es sich also derzeit nicht steigern, gleich gar nicht exponentiell. Normale Menschen, vom Erkälteten über den Hypochonder bis zur Risikogruppe, hätten zur raschen Testberechtigung noch schnell gen Risikogebiet reisen oder einen Infizierten kennen müssen. Außerdem sollen sich doch bis zum Impfstoff eh alle immunisieren müssen. Keine Massentests, keine Maßnahmen, keine Gefahr – oder?

Rette sich, wer kann?
Dennoch stieg die allgemeine Angst, anfangs als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, später per abstrakter Zahlenkolonne, mittels täglichem Robert-Koch-Report, um reichlich Behördenzeit zeitgebremst, aber dafür seriös anmutend, sich perfide vergrößernd. Es tat wohl doch not?!

So entschieden alle per Mandat erkorenen Repräsentanten dann plötzlich irgendwie, irgendwann, gern nach- und vor-, selten miteinander. In den nächsten zehn Tagen fiel in Dresden, Sachsen und der Republik nacheinander fast alles aus, was Spaß macht: Messen, Gottesdienste, Fußball mit Zuschauern, Fußball ohne Zuschauer. Dann, ganz rasch hintereinander, noch Konzerte, Theater, Barbesuche – der Virus lauert offenbar wie der Igel vorm Hasen. Später noch Kino, Schule, Weiterbildung, Gaststätten, Sportstätten, Konsum, Reisen und Museen – und dann quasi über Nacht auch noch Grenzverkehr sowie Fußball mit Ball und/oder Freunden. Alles scheint unkoordiniert nachgeahmt und reichlich chaotisch verordnet. Sonst hilft die Frage: Cui bono? Also: Wer bezahlt und wer profitiert? Hier noch nicht so recht, weil die Folgen unklar sind. Dennoch: Wenn schon so hart, warum nicht ein wenig eher? Am 3. März war der sachseneigene Warnschuss, spätestens am 6. lagen alle Karten offen auf dem Tisch.

Kurzum: Warum wurde das soziale Systemleben gestrichen – und warum täglich nur ein wenig mehr? Gruppendynamik wird nur noch zu zweit oder mit eigenen Kindern zugelassen. Als Spiel nur noch Schach oder Halma, aber kein Skat. Mähliche Freiheitsberaubung – womöglich ohne Sicherheitszuwachs plus Existenzverlust? Dafür sollen alle in der freien Wirtschaft arbeiten, die es können (und dürfen), es gibt eine neue Liste für lebenserhaltende Systemrelevanz, viele seltsam unterbezahlt und gänzlich ungeschützt ausgestattet. Sie dürfen zu Hause bleiben, dafür als einzige öffentliche Kinderbetreuung nutzen. Die anderen bekommen ihre Beiträge zurück.

Andererseits gibt es eine Art Schutzschirm für den öffentlichen Dienst vorm gemeinen Bürger: Alle müssen nach Hause oder zumindest ihre Türen schließen: Rathäuser, Behörden, Ministerien – Finanzämter, Arbeitsagenturen, Bildungseinrichtungen, am besten Homeoffice ohne Telearbeitsplatz: Rette sich, wer kann, heißt die Parole, selbst etliche Landtagsabgeordnete hielten sich nicht für systemrelevant genug für die Debatte um Corona.

Die Stunde der Apologeten  
In Kriegen stirbt die Wahrheit zuerst, in Zeiten der Not werden Begriffsdefinitionen zu Waffen. Es gibt besondere »Lagen« und viele »Fälle«, aus Empfehlungen werden plötzlich strafbewehrte »Regeln« – und das alles wegen eines »Stresstests«? So übertölpelt der Aktionismus folgenreich den Populismus. Denn der verordnete asoziale Stillstand draußen auf den Straßen und in allen Kultur- und Begegnungsstätten und jedweder Entwicklung wird plötzlich konterkariert mit unerhörter Medienpräsenz: Offenbar hat nun jeder Politiker in Führungsfunktion privilegierten Zugang zu öffentlichen-rechtlichen Studios, wo es auch mal urst menscheln darf, während die Landespresse mit kurzen Chats vorliebnehmen darf.

Dabei wird – neben dem reinen, kühlen Management des Krankenwesens und der Versorgung – schamlos und ohne jede Bedarfsanalyse mit utopischen Zahlen und nach oben offenen Blankoschecks jongliert, teilweise ohne Achtung des Parlaments und dessen Haushaltsvorbehalts. Darlehen, Zuschüsse, Hilfen, Steuerstundung, Kredite – dank Corona ist plötzlich nichts mehr unmöglich und angeblich sofort und unbürokratisch verfügbar. Für Firmen, Künstler und Soloselbstständige – nur Kurzarbeiter rutschen bei ostdeutschen Löhnen rasch in den Aufstockerbereich.  

Wende fürs westliche Abendland   
Ökonomen sprechen – am Tag vorm großen Abschied von der schwarz-roten Schuldennull – von riesigen Wohlstandsverlusten, während Psychologen uns Hamsterkäufe (16,99 Euro bei »Zoo Scharf« in Görlitz, aber erst nach 17 Uhr, weil er zuvor schläft) und den in Summe dreifachen Vorweihnachtsverkauf erklären. Was aber ist, wenn es bis nächste Woche mit dem lange versprochenen Nachschub an Schutzbekleidung, laut Pandemiegesetz reine Ländersache, nicht klappt? Oder doch die Versorgung der Supermärkte und die Lieferung der Botendienste kollabieren? Helfen uns dann China, Russland oder Kuba?

Noch ist es ob der Dynamik zu früh für Mutmaßungen, ob und warum Covid-19 manche Länder oder Regionen schwerer oder leichter trifft – zumindest solange die Fallzahlen positiv mit der Testquote korrelieren und jeder Tag nachrichtlich mehrfach Purzelbäume schlägt. Auch tröstet die Erfahrung, schon mal eine Wende er- und überlebt zu haben, derzeit recht wenig, wenn diesmal ebenso das westliche Abendland getroffen wird. Zwar freut sich die Natur über die weitgehende Abwesenheit vom Menschen, aber alle anderen Probleme laufen unterschwellig weiter. Der zeitweise Zerfall der Gesellschaft in die kleinste gemeinsame Zelle, die Familie oder die Wohngemeinschaft, wird einen Neustart nicht beschleunigen.

Ach so: Die Webpräsenz Nacht24.de ist angeblich noch käuflich, behauptet der Domainprofi im Homeoffice. Aber ebenso Freunde24 oder Maulwurf24 – eine schwere Entscheidung. 
Andreas Herrmann

www.coronavirus.sachsen.de
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