Desintegrierte Integrationsprojekte
Die Konkurrenz um ein überzeichnetes Förderprogramm bremst die kulturelle Flüchtlingsarbeit aus
Auch für den biodeutschen Theaterbesucher gehört das Montagscafé im Kleinen Haus des Staatsschauspiels inzwischen ebenso zum Angebot wie das Klara-Bistro. Intendant Joachim Klement erinnert an dessen Eröffnung im Jahr 2015. Das Staatsschauspiel folgte auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um asylsuchende Flüchtlinge einem Appell der damaligen Kunstministerin Eva-Maria Stange (SPD), das Bild von Sachsen nicht allein den Fremdenfeinden zu überlassen. Zunächst auf die dringenden Hilfen bei Sprache, Behördengängen, Sozialkontakten oder Mobilität ausgerichtet, avancierte der Montagstermin bald zu einem interkulturellen Treffpunkt. Im Durchschnitt begegnen sich hier wöchentlich 150 Dresdner und Migranten.
Eng angelehnt an die Bürgerbühne des Staatsschauspiels, inspirierten die Kontakte zu ausgesprochen gut angenommenen Stücken wie das vor Esprit strotzende »Homohalal« oder »Ich bin Muslima – haben Sie Fragen?«. Bürgerbühnenleiterin Miriam Tscholl wurde vom Bundespräsidenten eingeladen. Das Montagscafé fand Nachahmer beispielsweise in Düsseldorf und München. Als digitale Teestube ist das Projekt auch 2020 fortgeführt worden. Nur Insider wussten, dass es aus dem Fördertopf »Integrative Maßnahmen« des Sozialministeriums gefördert wird. Plötzlich hört man nun aus dem sonst mit einem beruhigenden Etat ausgestatteten Staatsschauspiel einen ungewohnten Hilferuf: Unser Montagscafé ist gefährdet! Denn ein neuerlicher Förderantrag wurde in der ersten Runde abgelehnt.
Projekte in ganz Sachsen gefährdete
Ein vergleichbarer Fall wirkt in der Bautzener Diaspora noch krasser. Zur Eröffnung des Thespis-Zentrums wurde im Juni 2018 noch getanzt und gesungen. Unter den Fittichen des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters entstand eine Art internationale Bürgerbühne, ein kulturelles Integrationsprojekt für Migranten – adressiert aber auch an die besonders reservierten Einwohner Bautzens und um Akzeptanz und Dialog mit ihnen bemüht. Jahreshöhepunkt war nun schon dreimal im Herbst das Theaterfestival »Willkommen anderswo« mit erstaunlich anspruchsvollen Beiträgen junger Bühnen aus ganz Deutschland. Erst im Dezember des Vorjahres erhielt »Thespis« den Sächsischen Integrationspreis. Der wird gemeinsam vom Sächsischen Ausländerbeauftragten und eben jenem Sozialministerium ausgeschrieben, mit dem es plötzlich so viel Ärger gibt.
Denn auch hier lief die Förderung Ende 2020 aus. »Seit Dezember befindet sich das gesamte Team in einer Art erzwungenem Schwebezustand. Es herrscht völlige Ungewissheit, ob unser Zentrum im Mai noch existiert«, ist Lisa Dressler nun überhaupt nicht mehr nach Singen zumute. Das sei so »lähmend und zermürbend«, zumal die migrationserfahrene kommunale Integrationskoordinatorin Halimeh Ibrahim aufgeben musste. Eine feste Beschäftigung ist Voraussetzung für ihr Bleiberecht in Deutschland. »Die interessante Arbeit hat gerade erst angefangen«, ärgert sich Lisa Dressler über den drohenden Abbruch. Die wachsende Ausbreitung von rassistischen und nationalistischen Haltungen verlange eigentlich das Gegenteil.
Thespis in Bautzen ist nicht das einzige kulturelle Integrationsprojekt in Sachsen, bei dem man die Ablehnung des Förderantrags trotz breiter Wertschätzung nicht verstehen kann. Das Chemnitzer »Haus der Kulturen« beispielsweise musste schon im Februar schließen, beim Trägerverein AGIUA für Migrationssozial- und Jugendarbeit erreicht man niemanden mehr.
In der Landeshauptstadt kursiert ein Offener Brief von sechs Vereinen und Institutionen, deren Förderanträge abgelehnt wurden. Der SPIKE Dresden e. V. beispielsweise, der 2018 den Sächsischen und 2019 den städtischen Integrationspreis erhalten hatte, wollte männliche Solo-Migranten im Umgang mit digitalen Medien schulen. Beim Omse e. V. geht es um die Fortführung des Projektes »Nachbar|schafft|Gorbitz«. Auch die Interkulturelle Familienwerkstatt des Kaleb-Vereins ist ein eingeführtes Angebot.
Unter der Überschrift »Integration ist kein Projekt, das warten kann« wurden auch in Leipzig bis zum 22. März Unterschriften für einen Offenen Brief gesammelt. Schon dessen Entwurf schlug über die Antragsgenehmigungsfrage hinaus Alarm. Denn wegen der vorläufigen Haushaltführung werden derzeit auch nur 65 Prozent der bewilligten Mittel ausgereicht. Mit einer Verabschiedung des Sächsischen Doppelhaushalts 2021/22 ist erst im Mai zu rechnen.
Entscheidungsdilemma für ein gutwilliges Ministerium
Wie kann ausgerechnet gegen das sächsische Sozial- und Integrationsministerium solcher Unmut wachsen? Ministerin Petra Köpping und ihre SPD waren bislang stolz darauf, in den Koalitionen mit der CDU Programme wie das »Weltoffene Sachsen« oder eben die Richtlinie »Integrative Maßnahmen« durchgesetzt zu haben. Seit 2016 unterstützt das Programm Wohlfahrtsverbände, Flüchtlingsräte und Migrantenorganisationen und ist stetig gewachsen. Dass es nun in ein Förderdilemma gerät, ist nicht dem Entwurf des coronabedingten Krisenhaushaltes anzulasten. Denn das Programm bleibt »durch das unnachgiebige Wirken von Staatsministerin Petra Köpping«, wie es im Ministerium heißt, konstant mit 11,5 Millionen Euro ausgestattet wie bisher.
Viel schneller gestiegen ist allerdings das Antragsvolumen, das Programm ist etwa doppelt überzeichnet. Das kann am wachsenden Bedarf, aber ebenso an der wachsenden Bekanntheit des Programms liegen, ist im Ministerium zu erfahren. Berücksichtigt man die für eine freie Vergabe an neue Projekte nur verbleibenden 4,75 Millionen Euro, ist das einzige Integrationsförderprogramm Sachsens sogar mehr als dreifach überzeichnet. Denn das vorrangige Psychosoziale Zentrum für traumatisierte Geflüchtete und die Zusagen für eine mehrjährige Förderung binden den überwiegenden Teil des Fördertopfes. Diese mehrjährigen Zusagen gelten aber maximal drei Jahre. Danach müssen sich auch bewährte Projekte wie »Thespis« oder das »Montagscafé« neu bewerben.
Dieser »Kannibalismus« führte zur Ablehnung von 75 der eingereichten 121 Projekte. Sozialministerium, Sächsische Aufbaubank, Landkreise und Kreisfreie Städte entscheiden darüber gemeinsam nach einem Punktesystem. Ein Ministeriumssprecher deutet die Bewertungskriterien an. »Dabei ist schon entscheidend, wie gut das neue Projekt begründet ist, wie viele Angebote es schon vor Ort gibt und wie stark es ganz fundamentalen Erstbedarfen wie Alltagsbegleitung, Orientierung im Gesundheits- und Sozialsystem oder der Vertiefung von Deutschkenntnissen dient.« Hinter vorgehaltener Hand ist auch zu hören, dass nicht automatisch öffentlichkeitswirksame Projekte mit der stärksten Lobby zum Zuge kommen.
Für alle reicht es nicht
Aber muss man wegen solcher erstrebter Gleichbehandlung Aufgebautes wieder einreißen? Das wird vielerorts nicht verstanden. »Das Sozialministerium sollte das Förderdilemma nicht auf dem Rücken guter Integrationsarbeit austragen«, fordert Lisa Dressler vom Bautzener Theaterprojekt. Der Dresdner Staatsschauspielintendant Joachim Klement fühlt sich geradezu verschaukelt. »Während in Berlin Integrationsgipfel stattfinden und Kulturstaatsministerin Monika Grütters erklärt, wie Kultur dabei helfen kann, wird hier die Perspektive einer beispielhaften Einrichtung infrage gestellt!« Bei der Erinnerung an die Entstehungsgeschichte des Montagscafés erregt sich der Intendant noch heftiger. »Wir haben das Gefühl, als Notarzt an eine Unfallstelle gebeten worden zu sein. Jetzt haben wir die Verletzten sozusagen versorgt, und dann wird uns mitgeteilt, dass wir die Unfallverursacher sind«, verweist Klement zugleich auf die Klagen des Dresdner Oberbürgermeisters Dirk Hilbert, es mangele in der Stadt an Begegnungsstätten.
In Dresden und in Sachsen werden zunehmend grundsätzliche Fragen gestellt. Warum ist nicht auch eine strukturelle, also institutionelle Förderung von Langzeitprojekten möglich, auch wenn diese abrechnungsaufwändiger als die Projektförderung ist? »Thespis« in Bautzen versucht momentan, mit dem Integrations-Preisgeld und Spenden anderer Stiftungen vorläufig zu überleben. Hier und anderswo hat man außerdem die Minimalchance einer Reserve-Bewerbung in der »zweiten Frist« genutzt, die Ende Januar endete und wo die Prüfung noch läuft. Letztlich kommen alle betroffenen Träger zur gleichen lakonischen Feststellung von Schauspielintendant Klement: »Man gewinnt den Eindruck, dass für die wachsende Aufgabe Integration einfach nicht genügend Mittel zur Verfügung stehen.«
Michael Bartsch