Der Mann, den sie Spacke nannten
Rückblick auf eine schicksalshafte Begegnung vor dem letzten Abschied
An einem Dienstag gegen Mittag klingelt das Telefon. »Und, wie fandstes?«, knarzt die schon erwartete Stimme am anderen Ende der Leitung. Nun kommt ein »analytisches« Gespräch über das am Vorabend Gesehene, wiederum gefolgt von einem Schwatz über alles Mögliche und Unmögliche. Immer wenn »The Walking Dead« lief, war das unser Ritual. Die neuen Folgen starteten vor wenigen Wochen, doch das Telefon wird nicht klingeln. Spacke ruft nie wieder an. Morgen wird er beerdigt.
Getroffen habe ich Spacke das erste Mal 1981 (wenn ich mich richtig erinnere). Natürlich in der Scheune. Mit meinem Schulfreund Dirk »Proc« Bräuer (wir hatten einen Hang zu skurrilen Spitznamen) besuchten wir einen Schallplattenvortrag, das Thema war die DDR-Band Karussell. Diese hatte seinerzeit aber gerademal zwei LPs draußen, weshalb es sehr wahrscheinlich war, dass das eigentliche Thema die Renft Combo war, aus der nach Bandverbot und Musiker-Ausreisen Karussell hervorging. So war es dann auch. Im Foyer des Hauses stand ein ebenso großer wie schlaksiger Typ, Mitte 20, hinter dem Garderobentresen und spielte Songs vom Vinyl. Das Erzählte war kaum zu verstehen, da so ziemlich alle anderen Anwesenden nur soffen und laut krakeelten. Die Scheune hatte damals eine deutlich andere Klientel als in späteren Tagen. Weil wir seinerzeit Die-Hard-Renft-Fans waren, quatschten wir den leicht zerknirschten Plattenmenschen an, um ihn damit zu trösten, dass seine Mühe nicht ganz umsonst war. Wenig später saßen wir mit ihm am Tisch beim Bier: »Ich bin der Spacke.« Dass der Mann eigentlich Michael Kremer hieß, erfuhr ich viel später, denn niemand, wirklich niemand nannte ihn beim bürgerlichen Namen (mit Ausnahme der Eltern).
Wäre ich damals nicht in die Scheune gegangen und hätte Spacke nicht kennengelernt, wäre mein Leben vollkommen anders verlaufen. Ich wäre nie an der Gründung des Jugendklubs ScheuneBrigade beteiligt gewesen und hätte vielleicht auch nie begonnen, Veranstaltungen zu organisieren. An den Wende-Aktionen 1989 in und aus der Scheune heraus wäre ich wohl nicht beteiligt gewesen, ebenso nicht Mitglied der Vereinigten Linken geworden, hätte nie dort Bernhard Theilmann kennengelernt, der mich wiederum im Februar 1990 zu einem Treffen einlud, aus dem die SAX entstand. Und: Meiner Frau Angela, die wie Spacke in der Scheune arbeitete, wäre ich wahrscheinlich auch nicht begegnet.
So war dieser Abend in vielerlei Hinsicht schicksalshaft. Denn aus dem Gespräch bei Bier und Rauchwaren entstand die Idee, dass sich in der Scheune etwas ändern müsse. Und als Gunter Neustadt dort Direktor wurde, öffneten sich alle Türen und ganz neue Möglichkeiten – für jene, die wie Spacke am Haus angestellt waren, wie auch für die junge ScheuneBrigade, die fortan Folk, Jazz, Punk, HipHop und ganz eigene Formen auf die Bühne bringen konnte. Seitdem war Spacke über 40 Jahre Teil meines Lebens. Und nicht nur meines. Denn, was viele nicht wissen: Spacke hat das Kulturbild dieser Stadt visuell an vielen Stellen bereichert: Die Scheune, der Schaubudensommer, der Hutball, Hoppes Hoftheater, das Neujahrssingen, der Schwippsbogen oder zuletzt auch die Wandmalereien im Societaetstheater tragen seine Handschrift und Bildsprache. Dazu kommen ungezählte Designs in Form von Plakaten, Logos, Flyern, Bannern, Backdrops … Sein besonderer Stil, oft mit Rückgriff auf vergangene Epochen der Populärkultur, war so singulär, dass man meist sofort wusste, dass etwas von ihm gestaltet wurde. Insofern ist es keine Untertreibung zu sagen, dass Spacke unsere kleine Dresdner Welt etwas schöner gemacht hat. Übrigens: Nach Dresden gekommen war er aus Hoyerswerda, wo er im Umfeld von Gundermann, der Brigade Feuerstein und auch der KulturFabrik um Reinhard »Pfeffi« Ständer aktiv war. In DD dockte er schnell an der Scheune an, der er auch als Freiberufler bis zum Schluss die Treue hielt. Noch beim großen »Abriss« vor der Sanierungsschließung im letzten Jahr drehte er Teile des Ladens noch einmal auf links.
Wenn er etwas hasste, dann war es Mittelmaß, das gut Gemeinte, aber schlecht Gemachte. Und stets war er selbst sein schärfster Kritiker. Ungezählt sind die Grafik- und Songideen, die er wegwarf, weil sie seinen eigenen Ansprüchen nicht genügten. Ebenso konnte er sich aber auch über den Murks anderer aufregen – Standardspruch: »Was isn das hier für ne Scheiße!« Und bitte auf keinen Fall zu nah am Mainstream sein, schon gar nicht im Mittelpunkt stehen. Viel lieber war es Spacke, von der Seitenlinie das Geschehen zu beobachten.
Sich zeigen, das gab es für ihn nur auf eine Weise: beim Musikmachen. Schon zu DDR-Scheune-Tagen jammten wir hin und wieder mit Zonenequipment schlechtester Qualität und fast bar allen Könnens. Laut sollte es sein, zerstörerisch, aber auch voller Spaß. Manchmal war es auch eine akustische Folksession. Es sollte aber bis 1999 dauern, bis wir gemeinsam in einer Band zusammenfanden: Slow Death. Bis dahin hatte ich mir eingebildet, ziemlich viel über Musik zu wissen. Schnell musste ich feststellen, dass ich nur an der Oberfläche gekratzt hatte. Denn mit dem Schaffen unseres Trios oder Quartetts (das änderte sich immer mal) öffneten sich neue Universen aus den Garagentoren des Rock’n’Roll, tönend mit dem Sound von Jon Spencer, Captain Beefheart, Pussy Galore, MC5, The Sonics oder The Flamin‘ Groovies. Letztere lieferten uns mit dem gleichnamigen Song auch den Bandnamen, der fortan fester Bestandteil jeder Setliste war. Schnell kam wir auch dazu, eigene Songs und Texte zu erschaffen – eine für mich bis dahin ungeahnte Erfahrung: »The Hitcher«, »Voodoo Boogie Master«, »Black Mamba« oder »Vampire’s Discotheque« waren wie Headlines in unserem kleinen Kosmos. Eine Zeitlang wunderte ich mich, warum Spacke vor Konzerten in Dresden viel nervöser war als bei Auswärtsspielen: Es war sein Respekt vor engen Freunden wie Willi »Dropout« Born, deren Urteil ihm immens wichtig war. Dann gab es noch Mad Cows On Fire, dazu früher Half Pint Of Cekapur oder die Zeugen Vermonas. Die ganz große Saitenshow waren jedoch in unregelmäßigen wie auch sehr großen Abständen die Neustadt Gitarreros. Hier vereinten sich fünf bis sechs Klampfen-Heroes des Stadtviertels, um Songs von QOTSA, Motörhead oder Cracker in die Welt zu ballern. Was das Besondere an Spackes Bühnenperformance war? Sein Spiel aus Überzeugung zwischen Wucht und Slide sowie seine unvergleichliche Art, sich zu bewegen.
2014 haben Slow Death das letzte Mal gespielt, da unser Drummer René aus der Stadt wegzog. Schon vorher hatten wir ausgemacht, dass wir nicht mit einem neuen Schlagzeuger von vorn anfangen. So haben wir es wie R.E.M. gehalten, die ihren heutigen Status so beschrieben: Wir haben uns nie aufgelöst, wir machen nur nicht mehr gemeinsam Musik. Ich denke sehr oft an diese knapp 15 Jahre in den Klubs und on the road. Mal vor einigen Hundert Menschen, mal vor nur 20. Immer hieß es: Alles geben! Und ich denke an die Menschen, mit denen ich durch und mit Spacke Musik machen durfte: Gero, Dirk, Carsten, Willi, René oder die polnischen Zwillinge Marek und Darek, einer Gitarrist, Schlagzeuger der andere und obskurerweise nie gleichzeitig bei Slow Death.
Wer Spacke kannte, weiß, dass er unfassbar warmherzig, ja gar knuddelig sein konnte, er teilte auch dann alles, wenn er kaum noch etwas hatte. Besitz bedeutete ihm wenig, in seiner kleinen Wohnung unter dem Dach am Bahndamm waren die Gitarren, die Platten und sein Rechner wichtig. Natürlich auch die Siebdruckposter, die an seinen Wänden hingen.
Spacke wusste, dass er keine hundert mehr werden würde. Eine Operation hatte er aber gut überstanden, wollte sich erholen, machte Pläne. Er sprach über Aufträge, eine weitere Gitarre und ein Amp zeugten vom Willen, noch einiges zu reißen. Als seine Tochter Ann mich an jenem Montag, diesem 14. Februar anrief, dachte ich nicht im Entferntesten an eine schlimme Nachricht. Noch drei Tage zuvor quackerte ich mit Spacke am Telefon ewig über Gottweißwas und natürlich die nahenden Folgen von »The Walking Dead«. Vom Tod war, wenn überhaupt, nur in einer ungefähren, nicht zu nahen Zukunft die Rede. Na klar, würden wir uns mal wieder »richtig« treffen, wenn die Gefahr einer Infektion geringer wäre. In dieser Welt wird es das Treffen nicht mehr geben.
Uwe Stuhrberg
Die Beisetzung von Spacke findet am 26. März um 11 Uhr auf dem Heidefriedhof statt.