Das schier Unmögliche in einer guten Geschichte

SAX-Gespräch mit Heiki Ikkola zum Zirkustheater-Festival

David Dimitri
Heiki Ikkola

Von den fünf Jahren als künstlerischer Leiter und Geschäftsführer des Societaetstheaters sind etwas mehr als vier herum – Heiki Ikkola hat diesen Zeitraum selbst abgesteckt. Im Mai 2020 mit der Corona-Schließung hat er das Haus übernommen und das Theater nicht nur am Leben gehalten, sondern ihm mit seiner Crew ganz neue Dinge eingehaucht. Dazu wurde der Stadt noch ein neues sommerliches Highlight beschert: das Zirkustheater-Festival. Vom 22. August bis zum 1. September findet es bereits zum dritten Mal statt. Reden wir mal drüber.

SAX: Der Zirkus als Sehnsuchtsort. Gab es das in deiner Kindheit in Magdeburg?
Heiki Ikkola: Der Zirkus war immer direkt präsent. Ich bin an der Elbe in der Deichstraße 28 aufgewachsen, ganz in der Nähe, wo immer aufgebaut wurde. Mich hat das schon immer interessiert. Deprimierend war jedoch immer die letzte Vorstellung, sonntags um 15 Uhr – da hat man die Geräusche des Abbaus um das Zelt herum schon gehört. Mit 16 bin ich dann tatsächlich mit dem Zirkus Probst herumgefahren. Also habe ich mir das mit dem Sehnsuchtsort eingelöst.

SAX: Wie hast du das erlebt?
Heiki Ikkola: Ich habe alle möglichen Arbeiten erledigt. Aber Zirkus ist auch ein sehr brutaler und widersprüchlicher Ort – in einem traditionellen Zirkus werden krasse Hierarchien gepflegt wie in einem Kastensystem, andererseits lebt man sehr familiär. Was für mich ein Phänomen war, dass die Kinder, die mitgefahren sind, in dem jeweiligen Ort, in dem der Zirkus spielte, in die Schule gegangen sind.

SAX: Was hast du aus dieser Zeit mitgenommen?
Heiki Ikkola: Mein erstes Zirkusprojekt hieß Compagnie Circus Kaos. Das hieß nicht umsonst so, denn dort haben wir auch hinterfragt, was im Zirkus passiert. Aus dieser Beschäftigung kommt meine Liebe zum zeitgenössischen Zirkus, weil der einfach vieles neu erfindet. Da geht es nicht andauernd um das Schneller-Höher-Weiter, sondern auch um ganz neue Erzählformen. Wie kann man eine gute Geschichte damit verbinden, dass das Publikum das schier Unmögliche erlebt? Was man nicht sieht: Eine Nummer dauert etwa um die zehn Minuten, aber geprobt wurde dafür oftmals fast ein ganzes Leben. Aber wie macht man daraus eine einstündige Erzählung? Als Theatermacher und Zirkusfaszinierter war das in den Neunzigern etwas, mit dem ich mich zunehmend beschäftigt habe.

SAX: Dresden ist in vielen Dingen eine eher skeptische Stadt. Wie erklärst du dir, dass das Zirkus­theater-Festival vom Start 2022 weg ein Publikumsrenner war?
Heiki Ikkola: Da sind drei Dinge: Zum einen habe ich schon mit Beginn meiner Arbeit hier mit Compagnien wie dem Zirkus FahrAwaY zusammengearbeitet, die dann am Goldenen Reiter, im Alaunpark oder in Prohlis die Menschen fasziniert haben. Da kamen viele Menschen zusammen und merkten: Ah, so kann Zirkus auch sein. Zum anderen hatten wir den Alaunpark als Spielort, wo wir spürten, dass die Leute förmlich lechzen nach Unterhaltung, die für die ganze Familie funktioniert, aber eben ohne die üblichen Zirkus-Ingredienzien. Und drittens gibt es irgendeine verrückte Verbindung der Dresdner zum Zirkus, auch eine Affinität zum zirzensisch Bildhaften – etwa von Weihnachtszirkus bis Derevo. Das sind Einflugschneisen, die wir nutzen konnten.

SAX: Gab es auch Reaktionen der Verwunderung?
Heiki Ikkola: Das gab es natürlich. Aber wir wollen die ganze Bandbreite des zeitgenössischen Zirkus darstellen. Das reicht vom »Erwartbaren« bis zu Grenzbereichen, in denen die Tür zum Zirkus nicht gleich zu sehen ist. Für die einen ist das ein erhellender Moment, bei anderen gibt es ein Stirnrunzeln.

SAX: Die Geschichte des Zirkus reicht von Gladiatorenkämpfen bis zur pferdebasierten Britannien-Gloria, von der Freakshow im Wilden Westen bis zur Goldenen Ära der 1920er-Jahre. Wo aber gab es den Wandel zu dem, was wir heute den zeitgenössischen Zirkus nennen?
Heiki Ikkola: Es gibt natürlich Anknüpfungspunkte bis ins 19. Jahrhundert, aber vor allem gründet sich das Wesen des zeitgenössischen Zirkus auf den Cirque Nouveau, der in den 1970ern in Frankreich entstand und in den Achtzigerjahren seinen Durchbruch hatte, an der Spitze Johann Le Guillerm. In dem, was da in Frankreich entstand, liegt für mich der Kern dessen, was heute den zeitgenössischen Zirkus ausmacht. Das kann zum Beispiel die Verliebtheit in ein Material sein oder das Zusammenspiel von Objekten und Schauspielern – all das hat mich als Puppenspieler besonders fasziniert. Nach Frankreich zogen die Benelux-Staaten nach, später Schweden, es entstanden erste Schulen für zeitgenössischen Zirkus – vor allem in Belgien und den Niederlanden. Bei uns gibt es das leider noch nicht, aber ich bin da ein Mitkämpfer, und so könnte es bald eine Zirkusakademie in Hannover geben, wobei ich mir eigentlich gewünscht hätte, dass so etwas an die Palucca-Schule kommt. Für mich persönlich war die Initialzündung, als ich in den Neunzigern Johann Le Guillerm mit seiner Show selbst in Berlin gesehen habe. Erst kürzlich konnte ich ihn wieder erleben. Wir würden ihn auch gern mal zu unserem Festival einladen, aber weil französische Zirkuszelte nicht die Baubücher haben, die in Deutschland notwendig sind, ist das schwierig. Wir überlegen nun, uns mit drei verschiedenen Festivals zusammenzutun, um die 35.000 Euro für das Baubuch zu finanzieren. Vor 30 Jahren hat man übrigens die Zelte einfach schwarz aufgebaut – ganz ohne Baubuch.

SAX: Im Gegensatz zu anderen Ländern zählt der Zirkus in Deutschland nicht als Kunst, sondern als Gewerbe?
Heiki Ikkola: Das hat seinen Ursprung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Damals wurden die Theatergesetze liberalisiert, und jeder konnte mit einer Gewerbeanmeldung Theater spielen. Damals gab es in Berlin drei große Zirkusse für bis zu 5.000 Zuschauer, die ihr Personal – auch Schauspieler und Tänzer – sehr gut bezahlten. Und gegen diese Konkurrenz ging die Theaterlobby vor, die »hehre Kunst« gegen den sogenannten »Tingeltangel«. Dieser Gegensatz hat sich in letzter Zeit – auch wegen Corona – etwas aufgelöst. Beim Fonds Darstellende Künste oder beim Bundesverband für Freie Darstellende Künste ist der zeitgenössische Zirkus inzwischen als Kunst anerkannt. Diese Bemühungen wiederum überwinden die gezogene Grenze zwischen zeitgenössischem und traditionellem Zirkus, denn jetzt merkt man, dass man voneinander lernen und sich unterstützen kann. Das ist eine interessante Entwicklung.

SAX: Was ist wichtig für die Künstler?
Heiki Ikkola: Man muss im Inneren seines Herzens ein Storyteller sein. Und wie welthaltig ist man in dem, was man tut? Wenn man das weiß, kann man aus seinen Fähigkeiten heraus nicht nur zehn Minuten, sondern auch einen ganzen Abend formen.

SAX: Das Festival startet spektakulär im Alaunpark mit The Gogo Home Project, einer Hochtrapez-Show. Das ging auch ohne Baubuch?
Heiki Ikkola: Das ist so ziemlich das einzige Flugtrapez in Deutschland, das man einfach so aufbauen darf. Für das Bauamt ist das Trapez das Arbeitsgerät der Künstler, es benötigt nur ausreichende Stabilität und einen sicheren Abstand zum Publikum. Wichtig ist uns, dass wir mit The Gogo Home Project Zirkusintiativen aus ganz Sachsen einladen, an einigen Tagen dort zu arbeiten.

SAX: Ungewöhnlich ist die Aufführung »L’Homme Cirque« von David Dimitri im Zirkuszelt, weil er vollkommen allein arbeitet.
Heiki Ikkola: David Dimitri ist der Sohn von Jakob Dimitri, dem Gründer der Scuola Teatro Dimitri. David hat in vielen Zirkussen der Welt gearbeitet, und so entstand dieses Interdisziplinäre, wie man es gerade bei Künstlern aus der Schweiz oft sieht. Aber diese Künstler sind als Reisende oft auch Multitasker, sind nicht nur Artisten, sondern ebenso Handwerker, Fahrer, Musiker, Automechaniker. Ursprünglich kommt David Dimitri von der Hochseilartistik, und wenn man das beherrscht, kann man schon mal sehr vieles: Balance, Schleuderbrett, Jonglieren, Entertainment. Aber es ist schon ein Unikum, allein einen Zirkus zu bestreiten, wie auch Luuk Brantjes und »Lone«. Eine Soloshow mit einem Schleuderbrett! Das Schleuderbrett ist normalerweise eine Paarnummer, denn man braucht immer jemanden, der dich auf der anderen Seite hochkatapultiert. Wenn man das allein macht, entstehen die wildesten Ideen. Und diese Tüftelei gehört unbedingt zum Zirkus dazu.

SAX: Die bereits erwähnte Accademia Teatro Dimitri ist ebenfalls zu Gast auf dem Festival, wobei in deren Inszenierung »Der Traum vom Traum« die namensgebenden Sujets Zirkus und Theater am meisten zusammenrücken. Kann man das so sehen?
Heiki Ikkola: Ja, das liegt aber auch in der Konstitution der Accademia. Jakob Dimitri hat viel sowohl in Zirkussen als auch in Theatern gespielt. Er wollte immer Geschichten erzählen und Menschen ausbilden, die auch körperbasiertes Spiel genauso draufhaben wie zirzensische Skills. »Der Traum vom Traum« ist die Abschlussarbeit einer Gruppe von zwölf Leuten, die an der Accademia ausgebildet wurden. Der Regisseur wiederum, Philipp Boë, kommt von Raum 305, die am Societaetstheater Residenz-Compagnie sind. Insgesamt ist das mehr Theater als Zirkus, aber der Zirkus ist immer dabei.

SAX: Das irisch-deutsche Duo Hippana.Maleta ist schon wieder fast klassische Straßenkunst: Es braucht auf dem Jorge-Gomondai-Platz nur eine Bank, eine Kiste und Bälle.
Heiki Ikkola: Das sind wahnsinnig coole Joungleure mit einer unglaublichen körperlichen Synchronität. Die Show heißt übrigens »Tunnel«, weil die beiden das in einem Tunnel in den Niederlanden geprobt haben.

SAX: Am selben Ort kann man Knot on Hands erleben, die mit »Brace for Impact« reine Körperkunst zelebrieren.
Heiki Ikkola: Das Faszinierende ist: Die drei haben sehr unterschiedliche Körper. Bei anderen Gruppen wird oft darauf geachtet, dass die Körper ähnlich sind, Knot on Hands aber arbeiten mit ihren Unterschieden. Am Ende funktioniert das Trio wie ein Körper.

SAX: Zwei auf dem Seil, ein Cello, ein Piano – bei Roikkuva aus der Schweiz werden »Dialoge« als Gratwanderung geführt. Wie kann man sich das vorstellen?
Heiki Ikkola: Der Dialog wird natürlich nicht gesprochen, das passiert zwischen Aktion und Musik. Es gibt zwei Seile über Kreuz und in den Winkeln sitzen Cello und Klavier. Weil jeder Artist sein eigenes Seil hat, sind sie sowohl Solist als auch im Duett. Am Ende wird es durch Interaktion zum Quartett, weil jeder mit jedem irgendwie verbunden ist.

SAX: Dabei sind auch die Barbaren Barbies mit ihrem »Wild Women Circus«, der genretchnisch vollkommen entgrenzt ist. Das hätte ich eher im Zelt erwartet, es spielt aber im Societaetsheater. Warum?
Heiki Ikkola: Das Haus, diese kleine Hutschachtel, ist ja für das Genre Zirkus nicht wirklich gebaut. Da muss man schon nach geeigneten Shows suchen. Und obwohl die Barbaren Barbies alle Möglichkeiten des Hauses sprengen, passt das genau hier hinein. Zumal eine so tolle Energie, die dieser Show innewohnt, dem Theater sehr guttut. Nun ist ein Festival immer ein Ausnahmezustand, wir möchten aber die Menschen auch dahingehend sensibilisieren, dass man das Genre auch außerhalb des Festivals hier weiterpflegen kann.

SAX: Im letzten Jahr ging das Festival auf den Neumarkt, in diesem Jahr ist der Altmarkt eine Spielstätte auf der anderen Elbseite.
Heiki Ikkola: Die Stadt hat uns signalisiert, dass es gut wäre, auch 2024 wieder ins Stadtzentrum zu gehen. Der Neumarkt steht nicht zur Verfügung, also wurde es der Altmarkt. Und diesmal ist es ein Projekt, das nicht in die Höhe geht, sondern in die Fläche. Hier kommen La Bande à Tyre aus Frankreich mit neun Radfahrern, die zugleich eine Band sind. Alle können wahnsinnige Dinge auf Rädern veranstalten und sind auch tolle Musiker. Es ist das aufwendigste Projekt des ganzen Festivals und steht auch für das diesjährige Motto »Come Together«. Denn wir haben extra nach Acts gesucht, die auch Communities bilden. Für eine solche Gemeinschaft stehen La Bande à Tyre fast schon ikonografisch. Auch The Gogo Home Project stehen dafür ebenso beispielhaft wie der Zirkus FahrAwaY, der mit seiner neuen Produktion kommen sollte. Aber wegen einer Verletzung von Valentin Steinemann kann die Gruppe gerade nicht spielen. Als die Absage kam, brach für mich für einen Moment kurz alles zusammen – und genau da kam die Anfrage von David Dimitri, dem eine Show in Frankreich abgesagt wurde. So funktionieren Festivals und der Zirkus eben auch. 2025 kommen FahrAwaY aber dann wieder.

SAX: Weitere großartige Gastspiele kann man entdecken wie etwa die von Andrea Salustri, Moritz Grenz und Clara Cortés, Lotte Mueller oder der Soon Circus Company, dazu kommen wieder einige Konzerte. Für dich aber ist es jetzt deine letzte Spielzeit am Societaetstheater, ist es damit auch dein letztes Zirkustheater-Festival?

Heiki Ikkola: Nein, denn das Festival wird im kommenden Jahr wieder terminlich nach vorn rücken und vom 13. bis 28. Juni stattfinden.
SAX: Es ist aber sicher, dass es auch 2026 und darüber hinaus mit dem Festival weitergeht?
Heiki Ikkola: Natürlich ist heutzutage nichts sicher, da ein solches Festival auch von externen Faktoren abhängt. Aber prinzipiell ist es so, dass das Festival beim Societaetstheater als gesetzt gilt. Stephan Hoffmann, mein Nachfolger, möchte das auch fortführen. Ob ich da beratend mitarbeite, wird sich noch entscheiden. Ich bin ja nicht aus der Welt.

3. Zirkustheater-Festival 22. August bis 1. September, Societaetstheater, Alaunpark, Altmarkt, Jorge-Gomondai-Platz
Tickets bei SaxTicket (auch mit Abholung im Shop): www.saxticket.de
www.zirkustheater-festival.de