Auf der Suche nach dem Geist Europas

Die EU lässt wählen: ein edles Doppelparlament mit den Befugnissen eines Kreistages

Foto: Andreas Herrmann

Desto höher man als betroffener Zuschauer die parlamentarischen Ebenen erklimmt, desto mehr erringt man Wertschätzung für die demokratische Basis. Zumindest in Sachen Debattenkultur. Wer dies bezweifelt, vergleiche eine x-beliebige europäische Parlamentsdebatte mit einer Sitzung vom Stadtbezirksbeirat Neustadt oder genieße als neutraler Beobachter die alljährliche Ortschaftsratsbegehung im herrlichen Kreuzungsdorf Schönborn, 14 Kilometer nordöstlich vom Dresdner Rathausmann gelegen, welches komischerweise zu Dresden gehört. Den einen Sommer geht es dort durchs Oberdorf, den anderen durchs Unterdorf – als bunte, offene Traube auf der Suche nach Problemen und Lösungen, meist als letztes Dresdner Parlament – erst danach sind Sommerferien. Die Höhe der Diäten korreliert offenbar potentiell mit dem Grad der Inszenierung. Und das positiv, was negativ für die Demokratie erscheint.

Diese Gremien – inklusive Kreistage und Stadträte – werden am 9. Juni auch in Sachsen mit neuen Volksvertretern per Wahl bestückt. Nun hat sich das EU-Parlament schon seit 25. April in die sitzungsfreie Sommer- wie Wahlpause verabschiedet und trifft sich, vermutlich ähnlich runderneuert wie Dynamo, erst am 15. Juli wieder (vermutlich in der Lobbyistenhauptstadt Brüssel, nicht am Standort Straßburg), um dann wie anno 2019 ein überraschend von den 27 Staatschefs aus dem Zylinder hervorgezaubertes neues Oberhaupt zu wählen und dessen 26 Kommissionsmitglieder ziemlich zahm per Befragung zu grillen, während der Stadtbezirksbeirat Neustadt am 12. Juno (17.30 Uhr) noch eine 58. und der Ortschaftsrat Schönborn am 19. Juni (19.30 Uhr) gar eine 63. Runde dreht – keiner Dresdner Rat hat bis dato mehr zu bieten. 

Doch wie soll man sich solch‘ abstrakten Ereignissen wie „Europawahlen“ annähern, zumal die hohlen Plakatphrasen und die bunten Pappgrimassen, kaum unterscheidbar in der erstrebten Ebene, nicht mal mehr zur Satire nötigen. Auch muss man EU-Europa auch in den meisten offiziellen Selbstbetrachtungen immer wieder des Größenwahns bezichtigen: Die „EU-27“ sind nur reichlich die Hälfte der Staaten, haben nur zwei Fünftel der Fläche – und fast 300 Millionen Europäer leben außerhalb der EU. Während die EU-Flagge sowieso bei EU-12, also dem Stand von 1993, stehenblieb (von der seltsamen Hymne ganz zu schweigen) und sich im Februar 2020 das Weltreich von Else Nummer 2 aus dem Konstrukt verabschiedete. Dort zeigte sich der Euro-Geist, denn „Euro-20“ ist wiederum die Liste der Staaten mit einheitlicher Währung, der sogenannte „Euro-Raum“ als Kernspekulatiusblase, wobei sechs Länder diesem beitreten müssten, sobald ihre  Konvergenzkriterien denn mal stimmten – nur Dänemark darf sich optional ewig selbst bekrönen.

Und wenn man sich den vielen monströsen Tempeln europäischer Demokratie in Brüssel wie Straßburg schon einmal annäherte – und dort leibhaftig nichts als abstraktes Rauschen und außer Takt geratene Eurokraten, von denen 96 die BRD (davon vier (aus oder für) Sachsen) repräsentieren, leibhaftig samt der innewohnenden Ungerechtigkeit (Malta bekommt ebenso wie Luxemburg und Zypern je sechs Sitze, Estland, Slowenien und Lettland nur 7 bis 9 von in Summe 705 Plätzchen) erlebte?  

Erinnerungen an 2004 und 2019

Vielleicht hilft eine Suche nach dem Geist Europas in überschaubarer Nähe und in doppelter Erinnerung: Vor genau fünf Jahren war diese Wahl am 26. Mai – und im nächsten der in Summe 159 internationale Dreiländerecke, von denen 48 in Europa und sieben in Deutschland liegen, ward schon am 1. Mai dem Jahr 2004 gedacht, als die EU sich zehn neue Staaten einverleibte und seither (damals: „EU-25“) an einer organisatorischen Überdehnung seiner Systeme und Riten leidet. Darunter war halb Osteuropa, also auch Tschechien und Polen –  beide (im Gegensatz zum DDR-Anschluss) nach klarem Volksentscheid (beide mit je 77% – die Slowaken gewannen mit 94 %). Dies ward zum 15. Jubiläum am Zittauer Dreiländerpunkt gefeiert, allerdings fehlte schon damals (wie immer noch) die beim einstigen großen Festakt versprochene Tripoint-Brücke für Fußgänger und Radfahrer, die alsbald die drei zart durch Wasser getrennte Länder über die Neiße und den Ullersdorfer Bach (einst Grenze zwischen Sachsen und Österreich-Ungarn) verbinden sollte.

Vier Flaggen zieren seither stets den „Tripoint“, die zwölfsternige EU-Flagge ward von Gerhard Schröder, Leszek Miller und Vladimír Špidla gemeinsam gehisst – von EUrweiterungskommisar Günter Verheugen und Sachsenchef Georg Milbradt beobachtet und begrüßt. Eine kleine Fußgängerbrücke, in Seuchenzeiten argwöhnisch von Polen bewacht, verbindet Tschechien mit Polen am Eck, die neue B178 kam seit dem damaligen ersten Spatenstich (bis auf zwei Teilstücke) in zwei Dekaden voran und die drei Städte in Sichtweite, also neben Zittau Hrádek nad Nisou und Bogatynia, mit in Summe rund fünfzigtausend Einwohnern, pflegen seit 2001 eine offizielle Kooperation auf Gemeinderatsebene, schlicht „Kleines Dreieck“ genannt.

Zur EU- und Kommunalwahl 2019 – die Ergebnisse sind just auf Abschiedstournee – tobte in Zittau nicht nur ein herrliches trinationales Theaterfestival (derzeit auf Anfang März verlegt), welches am Sonntagmorgen immer am Dreipunkt ein Familienpicknick veranstaltete, um irgendwann als Utopie dann das mittige Rondell des dreibeinigen Brückenmodells zu bespielen, sondern es stand auch ein kommunaler Bürgerentscheid über eine Bewerbung von Stadt und Region als Kulturhauptstadt Europas 2025 an. Der ging, zuletzt bis kurz vor zwei Uhr morgens ausgezählt, überraschend klar für das ziemlich verrückte Wagnis aus.

Er war damals der erste seiner Art überhaupt – und am hohen Rathausturm, wehte, weithin sichtbar, noch für ein langes Weilchen die blaue EU-Flagge. Am Abend des (im Gegensatz zu Dresden) ungerechten Ausscheidens in der ersten deutschen Vorrunde – rund anderthalb Jahre später in Berlin ausgetragen – war sie dann plötzlich verschwunden. Nun wehte am 27. April 2024 die Zittauer Flagge in böhmischen Rot-Weiß über der Stadt.

Polnisch, Tschechisch, Schlesisch und Sächsisch

Dennoch kann man dieses Grenzeck als Sachsens Mittelpunkt Europas werten (mal abgesehen vom kurzen Kulturausflug von Chemnitz anno 2025), denn es treffen hier Vorteile (verschiedene Kulturen samt Sprachen, Währungen und Gesetze) wie Nachteile (verschiedene Gesetze, Wechselkurse sowie Sprachen) plus alle Vorurteile und Erfahrungswerte in Echtzeit aufeinander. Neun Tankstellen (davon eine tschechische) lungern dicht beieinander in Grenznähe auf deutsche Spritsparer an den beiden Straßen zwischen Bächlein, Flüßchen und Schnellstraße und zwei Checkpoint (vor kurzem noch verlassen), ergänzt um das, was man gemein Polenmärkte (Blumen, Obst, Zigaretten und Gartenzwerge) nennt – und um zwei Supermärkte, an deren Nummernschildern auf dem Parkplatz man die drei Inflationsraten samt Wechselkurs abzulesen meint. All das auf zweieinhalb Quadratkilometern, größtenteils Feld, die als Südgrenze des Zittauer Zipfels seit 1945 als jüngste Weltkriegsfolge mahnt.

Dieser Zittauer Zipfel, gern auch „Zittauer Sack“ bezeichnet, umfasste einst 40 Prozent der Fläche  gleichnamigen sächsischen Landkreises, der die meisten Flüchtlinge grenznah aufnahm, was die Sehnsucht nicht milderte, wodurch die Stadt 1950 als Rekord plötzlich rund 50 000 Einwohner zählte, wurde dank Stalins Neißgrenzfixierung plötzlich Niederschlesien und damit Polnisch.

Zittauer Sack ohne Berliner Bewusstsein

Die Gmina Bogatynia beherbergt heuer auf 136 Quadratkilometern, auf denen jeweils 166 Personen hausen, zu einem Drittel Polens zweitgrößtes Braunkohleloch (teils schon unterm Meeresspiegel) und zu einem Sechstel wachsende Abraumhalde. Der einstige Tagebau Türchau, vor rund einem Jahrhundert Jahren fürs benachbarte Kraftwerk Hirschfelde erschlossen, sähe unter deutscher Fuchtel womöglich genauso aus – vielleicht sogar mit Umleitung der Neiße zugunsten recht mieser Braunkohle. Aber es gäbe wohl ein öffentliches Rückbaukonzept für die Zeit nach 2038 oder der Auskohlung 2044 – also pünktlich vorm 100. Jahrestag des Sieges. So dampft, rumort und leuchtet hier rund um die Uhr als echtes Zukunftsproblem vor allem bezüglich bewusster Renaturierung – mit wesentlich mehr Aufmerksamkeit in Prag und Warschau als in Dresden oder Berlin, wie es just erscheint.
Hier, im Kernland der Euroregion Neiße, wird besonders deutlich: Nähme die EU ihr einst formuliertes drittes Ziel, nämlich die Nivellierung der Lebensverhältnisse in Grenzregionen, wirklich ernst, würde viel mehr Geld (und persönlicher Einsatz) in Grenzaustausch fließen und es wären trinationale Projekte auch über Ex-Friedensgrenzen ohne den jeweils dreifachen Aufwand möglich, was alle – vor allem, wenn man andere Programme oder gar die so rasch wie politisch verschossenen Kohlemilliarden anschaut. Aber um Geld samt Gier und Geiz geht es nur bei Wert-, nicht bei Geistfragen.

Europafest als Wahlwerbung ohne Polonaise

Nun gab es dieses Jahr (komischerweise vier Tage vorfristig) ein organisatorisch weitestgehend aus Berlin importiertes großes „Europafest“ zum 20. Jahrestag – die Plakate, garniert mit einer Holzbogenbrücke samt Eisenbahn, hingen landesweit, wofür dann eigens vier sächsische Hummelbahnen gemietet wurden und als „Europa-Express“ den weiten Weg ins Eck antraten, um am 27. April das logistisch auf deutscher Seite abgelegene Gebiet in holprigen Halbstundentouren mit je drei Grenzüberfahrten samt Kristýna-See zu umrunden, gebucht wurden.

Die jeweils 13 Tuckertouren pro Gefährt waren die Rettung beim Andrang von sicher in Summe fünftausend Menschen über zwölf Stunden, denn pünktlich ab Mitternacht streikten im ganzen Landkreis plötzlich wieder mal die Busfahrer, wobei es vom Zittauer Hauptbahnhof bis zur ollen Kaserne als Startpunkt des Express-Shuttle-Kreisverkehrs durchaus zwanzig Minuten Fußmarsch waren und beim allerwärmsten Europafest seit Menschengedenken (echtes Erster-Mai-Wetter) noch zusätzlich zwei Demonstrationen angesagt, die am Nachmittag die Innenstadt belustigten: die „Blaue Welle“ per Ringmarsch und auf dem Marktplatz, die linke Szene hinterm Rathaus – beide ohne neue Botschaften, mit schlechter Musik und gelangweilter Polizei in Bundesligastärke.

Das Volksfest am Wasser, 44 weitere Südost-Fußminuten entfernt, gespickt mit sächsischer Politprominenz und den üblichen Infoständen der geförderten Institutionen, ward wie vor fünf Jahren mit abendlicher Liveschalte in den MDR-Sachsenspiegel gekrönt und gipfelte in drei großen Lagerfeuern der jeweiligen Ortsfeuerwehren auf drei Uferecken. Wie üblich stand die große Bühne mit bunten Musikprogramm auf tschechischer Seite, auf deutscher Seiten erzählten die „Brückenbauer“ Špidla und Verheugen unserer amtierender Demokratieministerin Katja Meier Anekdoten von damals.

Eine gemeinsame Dreivölkerpolonaise, die zu Blasmusik oder Abba-Revival und dank zweier THW-Interimsbrücken erstmals als endloser Kreisverkehr möglich gewesen wäre, fand leider nicht statt. Dafür konnte man sich per „Use-your-Vote“-Ballon, der am großen Kran hing, auf halbe Höhe ziehen lassen, um Selfies oder gar Fremdies vom neuhistorischen Gelände zu machen. Als es am Abend rasch und feucht erkaltete, zogen sich die weit über hundert Berufsbesucher ins VIPs-Zelt zurück, während nach ewiger Umbaupause die tschechischen Abba Stars aufwendig gestylt bei unter zehn Grad Celsius mit „Summer Night City“ starteten und die Wahlkämpfer lange im Wochenende waren. Die Frage, warum das Ganze vorfristig und nicht am 1. Mai stattfand, beantwortet wohl nur der Blick in die Terminkalender der an der Organisation Beteiligten, wo da sicher was wichtigeres stand. 

Für Gastronomen und Beherberger ringsherum war es sicher ein guter Tag, der grenzüberspringende Geist Europas zeigte sich neben dem zahlreich bezahlten Personal vor allem beim Nachwuchs, der sich zwischen den vier Fahnen, drei Lagerfeuern, drei Brücken und zwei Grenzgewässern im Ullerdorfer Grenzbachhüpfen übte – wer gar den gemeinen Zeitgeist unserer Europapas seit 1914 sucht, der folge diesem Bach einfach mal fußläufig bis zur Quelle – er ist im namensgebenden Dorf dreisprachig ausgeschildert.

Wahlkrampf ohne Relevanz

Dem vorausgegangen war am Vorabend ein ziemlich träges Wahlforum im alkoholfreien Zittauer Kronenkino, welches auch personell kaum etwas mit dem folgenden Treiben am Eck zu tun hatte: Die sächsische Landeszentrale für Politbildung hatte zum Start eines Aufklärungsquartetts in Forumform mit der grünen Anna Cavazzini (Listenplatz 3 – beste Chancen bei bislang 25 Plätzen für 20 Prozent anno 2019) aus Berlin und der ausscheidenden Linken Cornelia Ernst aus Dresden zwei aktive EU-Parlamentsmitglieder geladen, dazu Sachsens Staatskanzleichef Oliver Schenk, der als Spitzenkandidat der Landesliste mit Sicherheit ab Juli Peter Jahr – der als Landwirt in Sachen Nebenverdienstbundesliga vor zehn Jahren in Straßburg für Furore sorgte – als CDU-Sachsenmann ablösen wird.

Für die AfD kam der Leipziger Ex-Bundestagsabgeordneter Siegbert Droese statt Maximilian Krah, also Listenplatz 11 statt 1, der aber damit eventuell sogar Chancen hat (2019: elf Plätze für elf Prozent). Für die SPD kam eine Woche vor seinen Wahlkampfüberfall statt Matthias Ecke (Listenplatz 10) der Anwalt Harald Baumann-Hasske, der nirgends zur Wahl steht. Und für die Piraten die Meißnerin Anne Herpertz, die als Dresdner TU-Politikstudentin die Hochschulpiraten gründete, kurz Bundesvorsitzende war, und als Neustädter Stadtbezirksrätin bei der Bundestagswahl mit 0,9 Prozent der Zweitstimmen parteiinterner Spitzenreiter war, was auf Listenplatz 2 nicht für EUropa reichen würde (2019: 0,7 Prozent).

Was die Görlitzer FDP-Kreisvorsitzende Kirsten Schütz, Ex-Stadträtin und Ex-Landtagsabgeordnete (beides bis 2014) auf dem Podium wollte, erschloss ebenso wie bei der SPD nicht, aber sie plädierte bei der aufgeworfenen Frage nach mehr oder weniger Europa immerhin für ein „Europa der Regionen“ – statt eines der Vaterländer (AfD) oder eine weitere Zentralisierung bis hin zur Brüsseler Zentralrepublik – am besten mit internationalen Parteilisten ganz ohne Responsivität seitens der Abgeordneten.

Stargast in Zittau sollte eigentlich Martin Sonneborn sein, auf den angeblich gewartet wurde und für den der Stuhl ganz links außen neben der AfD glaubwürdig freigehalten wurde, mit dem das seltsame Format – mit zwei Zwei-Minuten-Sanduhr, ausgelosten Duellen, Live-Faktencheck eines aus Görlitz herbeigeradelten Hochschulprofessors und ohne gründliche Behandlung der EU-Förder-Malaise im Dreieck – garantiert gesprengt wurden wäre. Aber, so hieß es aus gut informierten Kreisen, der Name sei quasi die Dummie-Variable, wenn Die Partei vor Ort niemanden zur Verfügung habe.

„Rattenscharfes Selbstmordprogramm“ als Wahlergebnis

Das hatten sich sicher einige der rund 80 Besucher zu früh gefreut, auch weil dessen zweites Buch „Herr Sonneborn bleibt in Brüssel“ noch wichtiger als der Erstling erscheint und dazu beitragen dürfte, dass die 2,4 Prozent von 2019, also fast 900 000 Wähler, noch einmal gesteigert werden, wobei die Steigerungsquote (Vervierfachung gegenüber 2014). Neben der Schilderung des alltäglichen Wahnsinns samt Kriegstreiberei (vertragswidrige EU-Armee und Rüstungsgelder) und Werteverrat (Berg-Karabach, Julien Assange), zerpflückt er genüsslich die teilweise kriminellen Biographien oberster Kreise (und Greise) samt der Machenschaften der EU-Kommission, die man gern der gemeinen Tagespresse entnähme, wenn sie denn dort Thema wären.

Und erarbeitet sich an „Tüpen“ ab – statt Martin Chulz und Elmar Broken stehen nun neue Gestalten im Licht – auch in seinem Blog: „Paar tausend Euro pro Bummsgranate, guter Preis! – jubelt die SZ, die über diesen haarsträubenden Unsinn auch noch mit einem heiligen Ernst berichtet, als handele es sich um die Wiederauferstehung des rechten Latschens Jesu Christi.“ Und, leicht nachvollziehbar  zum jenem obskuren Deal, gesteuert von der Prager Burg: „Allein der Verdacht einer Anbahnung undurchsichtiger Geschäfte mit Waffenhändlern hätte zum geschlossenen Rücktritt der gesamten Kommission geführt – bis vor kurzem jedenfalls.“ Einen Tag vorm Zittauer EU-Forum meldete er sich noch einmal per Ein-Minuten-Rede live aus dem leeren Parlament: Das Ergebnis der Wahl steht bereits fest – ein „rattenscharfes Selbstmordprogramm“.

Dass eine gewisse Berg, Sybille (Weimarerin des Jahrgangs 1962 sowie Luft-, Nestroy- und Brecht-Preisträgerin), Sonneborn auf dessen dritter Abenteuertour nach Brüssel begleitet und ähnlich humorvoll wie bitter aus der Hirnblase der Demokratie berichten wird, ist zu erwarten. Was dann sicher in 34 Sprachen (wie ihre sonstigen Werke) übersetzt wird – nicht nur in 24 wie im Parlament üblich, wo seltsamerweise immer noch die Brexit-Sprache dominiert, üblich.

Sonneborn zitiert übrigens im Neuling zuerst Heiner Müller: „Das Überleben der Menschheit hängt ab von ihrer Fähigkeit, Unordnung zu schaffen und Ordnung zu verhindern.“ Die Parole für sein EU-Wahl-Schlamassel „Europa nicht den Vonderleyen überlassen“ wird in mehreren Aktionen lustig und wirkungsvoll untermauert, wobei er sich sowohl in Seuchen- als auch in Kriegsfragen vom Mainstream-Narrativen so differenziert wie geistreich abhebt.

Neben „Der Partei“ mit diesem Traumpaar an der Spitze hat übrigens auch das BSW eine illustre 20er-Liste mit „Tüpen“ zu bieten: Cum-Ex-Experte Fabio de Masi und Düsseldorfs EX-OB Thomas Geisel auf Platz 1 und 2 sowie Nahost-Experte Michael Lüders auf Platz 9, für den es allerdings nach aktuellen Prognosen (sechs bis sieben Prozent) nicht reichen dürfte. Dafür aber knapp für Facharzt Dr. Friedrich Pürner (Listenplatz 6), der als aufmüpfiger bayrischer Gesundheitsamtsleiter 2020 strafversetzt wurde. Aus Sachsensicht ist Gerhard-Schöne-Fan Thomas Kachel aus Leipzig mit Platz 19 allerdings zu weit hinten.

Zwei weitere Wahlforen, in der Woche zwischen Redaktionsschluss und Erscheinung gelegen, hatten für Leipzig neun Spitzenkandidaten (mit Sonneborn) und ein Europafest im Plauener Malzhaus mit vier Leuten aus der Zittauer Startarena (plus SPD-Ecke und BSW-Kachel) beim Forum und einen externen Bürgerdialog namens „Plauen in Europa“ zu bieten, während bereits am 18. Juno in Rodewisch (Vogtland 2) und Delitzsch (Nordsachsen 1) die Serie von 60 Wahlforen vor der  Landtagswahl am 1. September beginnt, wobei Dresden erst am 29. Juli startet.

Zur Vorbereitung auf den 1-Kreuz-Akt auf einen von 35 Kreisen am 9. Juno ist zwar die Beobachtung des Wahltrends und das Spiel mit dem Bundes-Wahlomaten vermutlich nicht schädlich, aber interessanter sind sicher die namentlichen Abstimmungsergebnisse der bisherigen Abgeordneten, deren Nebenverdienste auf den Seiten des EU-Parlaments oder der „Pirat-o-mat“, mit dem man sein eigenes Abstimmungsverhalten simulieren kann – ein erster Schritt zum stetig tagenden Bürgerparlament in einer gleichgeschalteten Digitalwelt (so der Strom für alle reicht).        

Wo EU-Europa gefeiert wird

Und der Geist Europas wohnt wohl inzwischen noch weiter östlich, denn in Polen wird Europa seit jenem Tag noch weit heftiger gedacht: und zwar immer vom 1. bis 3. Mai, denn letzterer ist als Tag der ersten echten Verfassung von 1791 wie der Kampftag ein nationaler Feiertag. Dieses Werk, als „liberale Maiverfassung“ bekannt, war zu frei und selbstbewusst für die benachbarten Großmächte, aber gilt immerhin weltweit als die dritte moderner Art überhaupt: nach Korsika und den USA.

Sie ward vom Sejm, der parlamentarischen Versammlung von Polen-Litauen im Warschauer Königsschloss verabschiedet – und führte rasch zum vierten polnisch-russischem Krieg und (dank preußischem Verrat) zur zweiten Teilung Polens. Die dritte von elf Schlachten war übrigens jene bei Mir – die ganze Geschichte ist ein Exempel für blaublütige Extravaganz auf Kosten des Fußvolkes und die blutige Genese der multipolaren Weltmachtenwelt akuter Prägung. 

Und schon seit 2004 feiert man zwischen Kampf- und Verfassungstag hier unübersehbar sogar noch den Flaggentag, wobei Weiß-Purpurrot, seit 1919 Nationalflagge, das EU-Blau im ganzen Land klar dominiert und ein wenig gearbeitet wird. In Jelenia Góra ward dabei sogar die Bronzegöttin Europa, die auf ihrem Stier auf die „Straße des 1. Mai“ als Boulevard einreitet, mit EU-Doppelflagge eingekleidet, so dass einige der zahlreichen Rübenzähler, die an einem Bauzaun gegenüber in ihrer grafischen wie namentlichen Vielfalt (zehn Formen von Pan Jan über Ryphen-Zabel bis Duch Gór) immer wieder erstaunen lassen, schelmisch grinsen müssen. Ist er, der Multilaterale – in welcher Ausformung auch immer – der Geist Europas? Vermutlich zumindest jener dieser Euroregion, an deren anderem Ende, zwei Braunkohlengiganten weiter, also an der Grenze zwischen Ober- und Niedersorbischen übrigens Krabat als hypernationale geistige Größe haust. Denn er ist eigentlich ein Guter, solange man nicht über ihn spottet. Was im Prinzip auf alle Proletarierbeherrscher aller Länder zutrifft.

Vergessene Grenzen und Überschreitungen

Zur Annäherung an den Geist Europas in dieser wie keiner durch den jüngsten Weltenbrand veränderten sogenannten Euroregion, eignen sich auch der Gickelsberg, südöstlichster Zipfel des Zittauer Sacks. Südwärts mit herrlichen Blick auf den Jeschken, allerdings luftdurchfurcht von zwölf böhmischen Windkraftriesen, vor denen neben Rübezahl auch Don Quixote geflohen wäre. Beim Blick gen Norden, auf der anderen Seite des Waldstreifens, sieht man den kompletten Zittauer Zipfel samt Türchauer Tagebau und einem trotz Wind und Sonne imposant dampfenden Kraftwerk.

Und einen Ex-Grenzturm als eigentlich perfekten Selfiepunkt, allerdings ist der Leiteraufstieg mit Nato-Draht verpickelt und als videoüberwacht verflucht. Weiter oben, am Grenzweg, wo ab und an ungestört alte Pärchenautos parken, ist auf polnischer Seite ein Riesenloch gebuddelt, damit kein Fahrzeug rüberkommt – offenbar ein moderner Pascherweg, nachdem die anspruchsvolleren im benachbarten Zittauer (auf böhmischer Seite: Lausitzer) Gebirge zu müßig geworden sind.

Ex-Lichtenberg ist heute ein faszinierend gruseliges Weltende mitten in Europa (samt EU), als Ort, der mangels Kohlegrundlage erhalten bleiben wird. Im Gegensatz zum benachbarten Bad Oppelsdorf im Tal, welches noch wesentlich mehr Leben verheißt, aber dessen Nordkante schon weggefressen ist und die Kirche an ein paar mondäne Bauten noch von alten Zeiten Wenn man als objektiver Fremder einen Wunschort zwischen Mühlrose, Pödelwitz oder Opolno Zdrój frei hätte – die Wahl fiele auf das Heilquellenrelikt mit „Schwefeleisen-, Moor und Stahlbad gegen Gicht, Rheumatismus, Ischias, Frauenkrankheiten und Nervenleiden“, nahe der Reichsbahnstation namens Wald-Bad Oppelsdorf.

Genauso symptomatisch für vergessene Wiedervereinigung gelänge ein Spaziergang am Ullersdorfer Grenzbach bis hoch ins Polnische, wo Oberullersdorf und Böhmisch-Ullersdorf, als Ulrici villa seit 737 Jahren behaust, auf eine neue Grenzenlosigkeit warten muss. Es wurde durch den Prager Frieden, als die Oberlausitz 1635 zu Sachsen geriet, plötzlich willkürlich getrennt, was faktisch nur die Religion und damit Schul- und Kirchgänge sowie das Administrative samt Einberufungen beeinflusste. Erst 1918, als Sachsens Grenze zur Tschechoslowakischen Republik, wurde sie plötzlich hart – und die Dorfstraße hatte plötzlich deutschen Rechts- und böhmischen Linksverkehr, die drei oberen Lokale deutsches, sechs untere hingegen böhmisches Bier. Neben Herkunft kommen plötzlich Sprache, Religion, Währung als systemische Grenzen hinzu, die ein paar dutzend Kilometer ziemlich obsolet erscheinen.

Oder eine Wanderung  von Ostritz über Andelka und das 2-Einwohner-plus-1-Kneipe-Dorf namens Saň gen Cernousy, um von dort den herrlichen tschechischen Eisenbahntakt zu genießen und über Wallensteins Friedland (mit Kafkas Schloss) und Liberec via Dresden, Prag oder per Zackenbahn übers Riesengebirge gen Hirschberg zu düsen und immer wieder die Schneekoppe zu bewundern. Schnell wie unmerklich kommt man bei solchen Tagestouren auf sechs bis zehn Grenzüberschreitungen.

Dabei überquert man in den ersten vier Kilometern hier gleich zwei Grenzen und unterquert dabei genau jene sechs summenden Hochspannungstrassen, die in Summe 1,39 Megavolt an Spannung und damit rund ein Zehntel an Polens Stromverbrauch aus dem Zipfel ins Landesinnere liefern. Zu Himmelfahrt – dieses Jahr just am 9. Mai, also einen Tag nach dem Befreiungsfeiertag in den Nachbarländern, gefeiert – wird dabei ein laut das Oberlausitz-Lied trällerndes spendierfreudiges Jungherrenquintett mit Leiterwagen und Konrad-Kasten aus Ostritz auf dem jährlichen Herrentagstrip zur „schwarzen Madonna“, einer offenbar attraktiven Ex-Kneiperin im Neubauviertel von Andelka, ziehen und freiwillig Geschichten über Europa und Vertreibung und Schicksalsschläge auf allen Seiten erzählen. Hier, am nördlichen Sackrand, ein geopolitisch eigenartiger Flaschenhals, zeigt sich die Schizophrenie von Grenzziehungen, die sowieso nur Menschen interessiert, wohl am eindrucksvollsten.

Dabei ist die saftige Pampa rings um die sieben Windriesen gleichartig weltfern wie schön, aber garniert mit weiten Blicken, vier Gebirgen, drei dampfenden Kraftwerken und ganz unterschiedlichen Dichten von Windspargeln und Solaräckern. Und so wird im Eck kantig klar: Der ganze mählich verheilte Schmerz der Vertriebenen auf beiden Seiten der Neiße, einst als Friedensgrenze überhöht, und das neue Heimweh aller Ansiedler müsste eigentlich allerorten zum ewigen Frieden gereichen. 
Andreas Herrmann

P.S. Die sanft gepulste Reise dauerte im Kern vom 26. April bis 9. Mai 2024 und wurde durch nichts und niemanden gefördert. Die Suche nach dem Geist dauert an.

Netzinfos:
Namentliche Abstimmungen: www.abgeordnetenwatch.de/eu/9/abstimmungen
Wahlforen: https://www.slpb.de/veranstaltungen
Wahltrend: https://dawum.de/Europawahl/
Selbsttests: www.piratomat.de
www.wahl-o-mat.de/europawahl2024/app/main_app.html