29 Minuten himmelhochjauchzend ...

... und last minute ein wenig zu Tode betrübt. Stuttgart puncht als letzter

Es gibt ja diese Redewendung vom neutralen Beobachter, dem ein spektakelreiches Spiel gefallen muss, auch wenn es am Ende keinen Sieger gibt. Aber wer bittesehr guckt denn Zweitligafußball ohne Favroiten im Herzen? Genau: niemand. Also: neutraler Beobachter am Arsch! Dann lieber der Klischeesatz: Wenn man 3:0 führt, dann muss man ... na ja, wenigstens nicht in der letzten Sekunde noch einen Elfmeter bekommen!

Halbzeit eins: Eine halbe Stunde Rock’n’Roll und ein Dämpfer

Was zunächst auffällt: Sehr viele gelbe Shirts außerhalb des Gästeblocks im Publikum zwischen den ganz vielen roten. Eigentlich ja der Alptraum von Polizei und Security, aber die Wasserwerfer wurden einmal mehr ganz umsonst geordert. Dass diese Extrakosten irgendwann trotzdem auf einer Liste stehen werden, die mit „Problemfans Dresden“ überschrieben ist, steht wortwörtlich auf einem anderen Blatt.

Auf dem Rasen zeigt sich die SGD wiederum in Weinrot und mit Marvin Stefaniak statt Erich Berko sowie Guiliano Modica für den gelbgesperrten Jannik Müller. Und als man noch so an seiner Erwartungshaltung an dieses Spiel herumfeilt, da schlägt es nach vier Minuten schon mal ein im Schwabenkasten. Aias Aosman spielt einen steilgeraden Pass in den Strafraum, den der von rechts heransprintende Niklas Kreuzer direkt auf Stefan Kutschke verlängert – aus Nahdistanz schiebt dieser dann mit dem Außenrist ein. Da fress ich doch einen Besen oder zwei, wenn das nicht genau so ausgedacht, geplant und geübt wurde. Laufwege so genial wie die Waldfee „Holla“ ruft. Hinsetzen, beruhigen, ist ja noch eine Weile zu spielen.

Ein Dutzend Minuten ticken von der Uhr, da zeigt Marco Hartmann, dass er raus muss. An der Mittelinie rasselt er mit Christian Gentner zusammen und zieht sich irgendetwas Schmerzhaftes in Hüfthöhe zu. Für ihn kommt Manuel Konrad. Das ist nicht gut, schwant und orakelt es in mir, bin ja schließlich beruflicher Zweckpessimist. Und die Schwäne orakeln noch lauter, als das Schwäbe-Gebälk zum ersten mal wackelt, denn Julian Green setzt den Ball aus 16 Metern an den Pfosten und Gentner kann den Abpraller aus fünf Metern nicht im Tor unterbringen.

Jetzt wird es flammend heiß um den Dynamo-Strafraum, doch aus den Flammen schlägt die Glut auf der anderen Seite als Stefaniak in der 22. Minute mal wieder Spielübersicht beweist und den mutterseelenallein laufenden Philip Heise auf linksaußen entdeckt und bedient. Der Ex-Stuttgarter läuft noch ein paar Schritte und spielt dann einen Bananenpass durch den Strafraum, der schlichtweg Weltklasse ist. Vorbei an zwei Schwaben endet die Ballkurve genau auf dem Fuß von – na logisch – Kutschke, der kaum Mühe hat, das zweite Tor zu schießen. „Was ist denn heut bei Findigs los?“, möchte man fragen, auch angesichts der Erschütterung der Heim-Defender, die sich armfuchtelnd konsterniert gegenseitig anblicken und es schlichtweg nicht fassen können, was da eben passiert ist.

Und jetzt kommt auch noch Glück hinzu: Modica bekommt einen Schuss an den (fast) angelegten Arm, was eigentlich kein Elfer ist, aber von so machem Referee trotzdem gepfiffen wird, auf der anderen Seite jedoch wird einer gegeben. Kutschke legt sich mit einem Köpper den Ball selbst vor, rennt allein Richtung Strafraum und wird genau auf der Linie von Mitchell Langerek abgeräumt. Eine ebenso ungeschickte wie sinnfreie Aktion des Keepers, der dafür Gelb sieht. Hernach schreitet der Gefoulte selbst zum Punkt mit dem Plan: den Towart nach rechts schicken und satt nach links schießen. Der Plan geht auf, 3:0, remember the Hinspiel! Ist das zu schön, um wahr zu sein? Jein.

Zunächst bleibt uns das Elferglück treu, denn Florian Ballas geht an der Seite von Simon Terodde mit einer Rutscheinlage zu Boden und erwischt den Stürmer kurz vor der Torauslinie leicht am Knöchel. Für den Schiedsrichter nicht zu sehen, weshalb er auf Schwalbe entscheidet. Nur eine Zeigerumdrehung später zeigt der Simon dann doch noch, was er drauf hat, als er einen weiten Ball geschickt annnimmt und allein vor Marvin Schwäbe vollendet. Ballas und Modica hatten parallel zum Geschehen auf ein Kaffeekränzchen eingeladen, aber der Terodde wollte keinen Kuchen, sondern Schmackes. Und Schwäbe? Geht zwei Schritte zurück, statt auf den Mann zu.

Bis zur Pause dreht Stuttgart nun am Rad. Dynamo steht tief, den Kontermöglichkeiten magelt es nun zusehends an Gefahr und es deutet sich an, was die zweiten 45 Minuten bringen werden: einen Sturmlauf auf das Dresdner Gehäuse.

Halbzeit zwei: Modicas Rutscher und Heises Fuß

Der eben genannte Sturmlauf nimmt sofort bei Wiederanpfiff Gestalt an. Zwar hat Dynamo nach einem Stefaniak-Pass auf Kutschke noch eine Halbchance, doch ab der 50 Minute übernimmt der Verein für Bewegungsspiele endgültig das Zepter in dieser Begegnung. Jeder ballbesitzende Gast wird sofort angelaufen, werden so Fehler und Unruhe provoziert, jeglicher Spielaufbau unterbunden. Noch vor der 60. nimmt Uwe Neuhaus Aias Aosman vom Feld und bringt Nils Teixeira, um hinten mehr Stabilität zu organisieren, was aber den dynamischen Vorwärtsdrang noch schwieriger macht. Oder denkt der Coach schon daran, den Zweitorevorsprung über die Zeit zu bringen? Als direkt im Anschluss erst ein Grgic-Freistoß via Schwäbe-Faust sowie der Terodde-Nachschuss an die Latte knallen, wird klar, dass das eine heiße halbe Stunde bis zum Abpfiff wird.

Defensiv nimmt Dresden den Kampf aber an. Mit allen Beinen, Oberkörpern und Köpfen wird Angriff auf Angriff abgewehrt, wird geblockt und gegrätscht. Über weite Strecken bleibt die Mittellinie unerreicht, die gegnerische Hälfte unknown territory. Und wenn sich – wie in Minute 66 – doch noch einmal eine Konterchance bietet, scheitert diese an Überhast und jetzt magelnder Coolness der Beteiligten.

Eine Verschnaufpause gibt es, als kurz vor der 70. Julian Green ausgwechselt wird, der im Stuttgarter Angriff einer der Aktivsten war. Nun kommt auch Erich Berko für den heute nicht so auffälligen Niklas Hauptmann, aber auch Berko wird an diesem Nachmittag in seiner alten Heimat keine sonderlichen Akzente setzen. Dafür trifft Gentner ein weiteres Mal die Dresdner Latte. Wann ist das Glück aufgebraucht? Genau fünf Minuten später. Da bekommt Emiliano Insua den Ball direkt am Schwäbe-Fünfer und es kommt zum Goucho-Duell mit Modica. Aber der lässt sich so fix vernaschen wie eine Hallorenkugel im Mund verschwindet und kann am Boden den Einschlag aus Nahdistanz nicht mehr verhindern.

Jetzt ist es noch eine Viertelstunde mit einem Tor vorn. Das geht nicht gut, hämmert es in meinem Kopf. Zumal fast alle sichtbar auf dem sprichwörtlichen Zahnfleisch gehen, und der Trainer durch den frühen Hartmann-Wechsel auch nicht mehr reagieren kann. Zwei Angriffsversuche gibt es noch über Kutschke, Teixeira und Berko, aber wirkliche Gefahr entsteht hier nicht mehr.

Dann die Overtime-Anzeige: vier Minuten. Das scheint etwas viel, denn es gab nur eine längere Unterbrechung, als Modica einmal zu Boden ging. In Zeitpanik wirken die Suttgarter nun immer planloser, werden die erwarteten langen Bälle gespielt. Und dann, in der letzten Minute der Nachspielzeit, bekommt Carlos Mané im Dresdner Strafraum den Ball. Seit Minuten schleppt sich der Portugiese angeschlagen über das Feld, man muss den nur anhusten, dann fällt er um. Aber was macht Philip Heise? Geht zu Boden, will rutschend grätschen, nimmt das hohe Bein zwar noch runter, aber Mané sagt einfach „obrigado“ sinkt einhakelnd auf den Rasen. Folglich zeigt Herr Perl auf den Punkt, alles andere wäre des Glücks zu viel gewesen. Terodde, nicht der sicherste Strafstoßschütze, versenkt platziert links unten. Schwäbe hat die Ecke, ist aber fünf Zentimeter zu kurz. Letzte Aktion, Abpfiff.

Ich hatte ehrlicherweise eine bittere Niederlage erwartet. Nun ist es ein bitteres Remis geworden. Wobei weniger das Ergebnis ein Problem darstellt, sondern das Zustandekommen, weil wir ja unsere reichlichen Erfahrungen haben mit diesen Last-Minute-Toren. Doch es gilt nach wie vor und man muss es sich immer wieder einbleuen: Das ist alles Gejammer auf hohem Niveau. Der kurze Traum von Durchmarsch ist nun Geschichte, aber eine langfristige Vorbereitung auf die zweite Zweitligasaison in Folge, die ja immer die problematischere war, ist auch sehr viel wert. Und immerhin hat Rico Benatelli an diesem Wochenende auch getroffen. Das sind Aussichten ...
Uwe Stuhrberg

VfB Stuttgart vs. Dynamo Dresden
2. April 2017, Anstoß: 13.30 Uhr
Tore: 0:1 Kutschke (4.), 0:2 Kutschke (22.), 0:3 Kutschke (26., Elfmeter), 1:3 Terodde (29.), 2:3 Insua (75.), 3:3 Terodde (94., Elfmeter)
Dynamo Dresden: Schwäbe, Kreuzer, Modica, Ballas, Heise, Hartmann (12. Konrad), Lumpi, Hauptmann (70. Berko), Aosman (56. Teixeira), Stefaniak, Kutschke
Ohne Einsatz: Wiegers, F. Müller, Starostzik, Hilßner
Schiedsrichter: Günter Perl
Zuschauer: 58.000
www.dynamo-dresden.de