Unverhoffte Schicksalsverwandtschaft
Masha Qrella verarbeitet Gedichte von Thomas Brasch zu Songs. Ein SAX-Gespräch.
Er ein Ostberliner Dichter, Dramatiker und Filmschaffender, der über Kreuz liegt mit dem real existierenden Sozialismus der DDR und als Mitunterzeichner einer Protestresolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 ebenfalls nach Westdeutschland emigriert. Sie, geboren drei Jahrzehnte nach ihm in Ostberlin, kann sich wiedererkennen in seinen Gedichten. Eine unverhoffte Schicksalsverwandtschaft, die Masha Qrella entdeckt, weshalb sie den Entschluss fasst, Gedichte des 2001 verstorbenen Thomas Brasch zu Songs zu verarbeiten. »Woanders« heißt das Album mit den siebzehn Stücken. Für die SAX Sprach bernd Gürtler mit ihr.
SAX: Dass du auf Thomas Brasch gestoßen bist, verdankst du seiner jüngeren Schwester Marion Brasch und ihrem autobiografischen »Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie«. Was hat die Buchlektüre bewirkt bei dir?
Masha Qrella: Ich kannte Marion Brasch nur als Radiomoderatorin bei Radio Eins oder sogar noch von DT64. Ihre Radiostimme war mir sympathisch, von ihrer Familiengeschichte wusste ich nichts. Ihr naiver Blick der jüngeren Schwester auf eine wirklich nicht einfache Familiengeschichte in »Ab jetzt ist Ruhe« kam mir vertraut vor. Auch ich bin die jüngere Schwester eines älteren Bruders. Irgendwann begann ich Texte von Thomas Brasch zu lesen. Hängen geblieben sind die Gedichte, die ich vor mich hin sang. Erste Songskizzen entstanden. Als sich abzeichnete, dass mehr daraus werden könnte als eine Beschäftigung für mich allein im Proberaum, schickte ich Marion Brasch ein Stück. Ich war mir unsicher inzwischen, weil mir Thomas Braschs immense Bedeutung für seine Anhängerschaft bewusst geworden war, bekam aber von Marion einen Daumen hoch zurück.
SAX: Wie bist du bei der Umsetzung der Gedichte vorgegangen? Elektronisches Equipment kommt zum Einsatz, einmal auch die Ostberliner Bandformation Tarwater.
Masha Qrella: Ich wollte die Gedichte nicht einfach vertonen, mir ging es auch nicht um Thomas Braschs Biografie. Es gibt mehrere Sachbücher über ihn, einen Dokumentarfilm, neuerdings ein Biopic. Was ich wollte, war, meine eigene Welt begreifbar zu machen.
SAX: Deine Welt lässt sich durch seine Gedichte begreifbar machen?
Masha Qrella: Unbedingt! Thomas Brasch schrieb sicherlich nicht über Berliner Technoklubs der Neunzigerjahre, aber ich fühle mich an meine Jugend nach der Wende erinnert.
SAX: Du würdest sagen, aus seinen Gedichten spricht gar nicht so sehr die ehemalige DDR zu dir, sondern eher die Nachwendezeit?
Masha Qrella: Genau! Faszinierend, wie Thomas Brasch einen Zustand beschreibt, in dem wir Ostdeutsche uns nach der Wende wiederfanden. Diese Verlorenheit, dieses Nichtdazugehören. Das ist kein speziell ostwestdeutsches Phänomen, das betrifft jeden, der von woanders an einen Ort kommt, der nicht offen ist für das, was du mitbringst. Dafür fand Thomas Brasch wunderbare Worte, so zeitlos, dass sie bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben.
SAX: Charakteristisch für Thomas Brasch war auch, dass seine Gedichte aus einem sehr persönlichen Blickwinkel verfasst sind.
Masha Qrella: Was zu seiner Zeit völlig unüblich war; politische Texte hatten agitatorisch zu sein damals. Seine persönliche Perspektive nötigt einen, sich zu verhalten zu den gesellschaftlichen Widersprüchen, in denen man lebt. Er beschreibt nicht irgendeinen Zustand, in den man sich selbstmitleidig fallen lassen kann, sondern du musst dich selbst hinterfragen, wie du zur Situation beiträgst. Zum Beispiel wie es kommt, dass ostdeutsche Stimmen dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung nach wie vor kaum Gehör finden? Warum verdrängt meine Generation ihre Vergangenheit? Warum erzählen wir nicht unsere Geschichte? Durch Thomas Brasch stellen sich solche Fragen, nicht wertend, sondern analytisch. Total interessant und gleichzeitig menschlich.
SAX: Was denkst du, weshalb ist das so, dass ostdeutsche Stimmen immer noch kaum Gehör finden?
Masha Qrella: Vielleicht, weil es politisch nicht gewollt war, wegen der starken Bürgerrechtsbewegungen im Osten. Vielleicht, weil es gar keine Wiedervereinigung gewesen ist, sondern der Anschluss des Ostens an den Westen und wir erst mal rausfinden mussten, wie das jetzt läuft? Bis wir geschnallt hatten, dass Besitz, dass Geld Macht bedeuten, sind Jahre vergangen. Das ist gar nicht als Vorwurf gedacht, eher eine Feststellung. Und dann natürlich die Frage, weshalb von uns Ostdeutschen der Popdiskurs nach der Wende nicht entschiedener mitgeprägt wurde. Wie erklärt sich unsere Zurückhaltung? Ist das Demut im Sinne von Respekt? Misstrauen gegenüber der großen Geste? Weil wir gerade aus einer großen Geste kamen und dachten, wir stellen uns doch nicht schon wieder hin und machen auf große Geste? In der Rückschau lässt sich vieles durch unsere Herkunft erklären. Und ich war vierzehn, als die Mauer fiel. Ich hatte keinerlei nennenswerten Erfahrungsschatz, an den ich anknüpfen konnte.
SAX: Die Verlorenheit, das Nichtdazugehören, das du in Thomas Braschs Gedichten entdeckst und mit deinem Heranwachsen im Nachwende-Gesamtdeutschland in Verbindung bringst, ist das nicht aber auch eine ungeheure Triebfeder jeglicher Kreativität? Es ist meistens das Unbehauste, das Menschen mobilisiert, etwas zu erschaffen?!
Masha Qrella: Dieses Nichtdazugehören beziehe ich gar nicht so sehr auf mich, letztendlich lebe ich schon viele Jahre in einem Land, das ich nicht als meins empfinde und bin trotzdem Teil dessen, was aus dem Land geworden ist. Ich sehe eher meinen Vater. Ungefähr zu der Zeit, als Thomas Brasch nach Westdeutschland ging, kamen meine Eltern von Moskau nach Ostberlin. Ich erkenne an ihnen die klassische Tragödie der Emigration. Natürlich ist das auch für Thomas Brasch ein kreativer Motor gewesen. Aber wie viel Zeit seines Lebens war er kreativ, wie viel Zeit hat er gelitten? Und er ist nicht gut rausgekommen aus der Nummer, muss man auch sagen. Bei aller Schönheit seiner Texte, war zum Schluss viel Bitterkeit im Spiel. Ich weiß nicht, ob sich das mit Kreativität aufwiegen lässt. Was ist wichtiger?
SAX: Warum sind deine Eltern Mitte der Siebzigerjahre von Moskau nach Ostberlin gezogen?
Masha Qrella: Meine Eltern haben beide in Moskau studiert. Meine Mutter ist in Deutschland geboren, aber in der Sowjetunion aufgewachsen. Mein Vater stammt aus Wolgograd, die beiden sind sich als Studenten begegnet. Mein Vater ist Physiker, er war in der Weltraumforschung tätig und Geheimnisträger. In den Siebzigern, der Kalte Krieg war angesagt, hätte er gar keinen Kontakt zu Ausländern haben dürfen. Aber meine Eltern sind bereits verheiratet gewesen, und meine Mutter sprach so gut Russisch, dass es gar nicht auffiel, dass sie Deutsche war. Irgendwann flog es doch auf und mein Vater durfte nicht weiterarbeiten. Ein dramatischer Karrierebruch. Er ließ sich einen Bart wachsen und las nur noch Dostojewski. Meine Mutter versuchte mit Händen und Füßen, ihn in die DDR zu bringen. Dann kamen sie in die DDR, und heute wundert sich mein Vater, dass meine Kinder kein Russisch sprechen. Er ist schon etwas dement, fragt immer, warum sprechen die Kinder Deutsch. Für ihn, in seinem Kopf, liegt Moskau eine Fahrradstrecke entfernt.
SAX: Thomas Brasch starb im November 2001 als unglücklicher Mensch. Was ist aus deinem Bruder geworden, zu dem du die jüngere Schwester bist?
Masha Qrella: Er ist sofort nach der Wende nach Moskau gegangen.
Interview: Bernd Gürtler
Masha Qrella: »Woanders« Konzert am
14. September in der Schauburg
Karten bei SaxTicket in der Schauburg und bei www.saxticket.de
www.mashaqrella.de