Mit der Projektleiche ins Massengrab
Ein Dresdner Label macht aus fiktiven Bandnamen grenzenlose Musikprojekte
Die Zeiten waren, sind und werden immer hart sein für die meisten freischaffenden Künstler. Das gilt auch und besonders für Musiker aus den popkulturellen Subgenres. Die aktuell anstehende Sanierung eines großen Häuser-Komplexes in Dresden-Klotzsche lässt zudem bald 150 Dresdner Musikprojekte ohne Proberaum dastehen, und das in einer Zeit, in der Proben das Einzige ist, das Musikern zumindest das Gefühl von ihrem Berufsbild bewahrt (siehe auch Seite 14). Wie begegnen Dresdner Szene-Akteure dieser Situation, in der vermeintlich alle ihre Flinten ins Korn geworfen haben? Der Dresdner Kameramann und Videoproduzent Armin Riedel und seine Mitstreiter, die Musiker Philip Ohlendorf, Tom Schneppat und Robert Rutsch sowie Timi Theremin, »Formel 5-Pilot« haben Massengrab Records gegründet und verbinden so Musiker*innen, Grafiker*innen, Tattookünstler*innen, Booker*innen und Veranstalter*innen miteinander.
Massengrab Records ist eine Art Label für »schön schlimme Projekte, spontane Ideen und originelle Bands«. Die Inhalte und Künstler sind kurios, divers, weit weg von Mainstream und mindestens im Inneren Punk. »Wir wollen eingefahrene Szenestrukturen überwinden und Bands und Künstler*Innen genreübergreifend vernetzen und sichtbar machen«, sagt Riedel. Vor Jahren haben Timi Theremin und er angefangen, sich fiktive und möglichst krasse Punk-, Oi- und Metal-Bandnamen auszudenken und zu sammeln. Dazu entwarfen sie Band-Logos und das jeweilige Cover-Artwork dazu, das sie irgendwie festhalten und veröffentlichen wollten. Also haben sie sich Ende 2019 für all diese nicht existierenden Bands das Phantom-Label mit dem so sarkastischen wie eingängigen Namen ausgedacht. Noch ohne große Ambitionen, daraus echte Bands zu machen. »Lustigerweise fanden die Leute aus unserem Bekanntenkreis das überwiegend interessant und witzig. Viele von ihnen spielten selber in Bands und hatten auch noch irgendwelche Projektleichen in ihren Kellern. Wenn die schräg genug waren, haben wir sie direkt auf Massengrab Records veröffentlicht.« So lernten sie noch mehr Leute und Bands kennen und begannen, mit tatsächlich existierenden und wirklich guten Bands zusammenzuarbeiten, darunter Dresdner Combos wie Heliod, Midnight Iron Crack, Trigger Kid And The Ending Man und Wucan.
Mit Beginn der ersten Covid-Beschränkungen in 2020 begannen auch Robert Rutsch und Armin Riedel – alte Freunde aus der Jugend in Bautzen – viel Zeit im Proberaum zu verbringen und unter dem Bandnamen Giftrausch spontane Punkrock-Songs zu produzieren. Es folgten selbst organisierte Live-Jams und deren Aufzeichnung. So entstanden die Massengrab Records Sessions und Tom Schneppat von Heliod wurde ihr Haus-Mischer und -Masterer. Mit dem Lockdown im Frühjahr 2020 verlagerten sie die Aufnahmen von den Klub-Bühnen in die Proberäume der Bands. Mit einer Förderung von »#KulturDigital – So geht sächsisch« spielten sie drei Sessions ein – im März sollen sie digital veröffentlicht werden. »Für die Präsentation von Bands und ihrer Musik sind guter Ton, Grafik und Video natürlich gleichermaßen wichtig, aber das Gestalten des ›Labels‹ und des Auftritts der Bands gehören für uns zum eigentlichen Spaß. Wir haben ja als fiktives Konstrukt mit Fantasie-Bands angefangen, allein aus der Freude am Gestalten, Zeichnen und am Imagebasteln. Von daher sind wir auch auf allen künstlerischen Ebenen immer für frische Mitstreiter*Innen dankbar und offen für neuen Input.«
Massengrab Records ist also eher eine kreative Plattform als ein echtes Label. »Wir haben Infrastruktur und Know-how, um in Kooperation mit einzelnen Künstlern auch Veröffentlichungen zu realisieren, aber wir veröffentlichen eigentlich nichts im herkömmlichen Verlagssinn. Dazu fehlen uns schlichtweg die finanziellen Mittel. Aber wir genießen auch die Freiheit, die diese Arbeitsweise mit sich bringt. Wir sind offen für alle möglichen Ideen, solange die in etwa in unsere musikalische Kerbe schlagen und können dann mit Video- und Audioproduktion, Grafik und Fotografie jeden unterstützen, so wie es eben möglich und gewollt ist. Außerdem bleibt in dieser Organisationsform immer Platz zum Hinterfragen und Reflektieren unserer Arbeit.«
Dazu gehört auch die kritische Beleuchtung des Frauenanteils in der Punk-Musik, denn in ihren eigenen musikalischen Kreisen seien leider fast ausschließlich Männer unterwegs. »Wir sind ja angetreten, um Szene- und Genre-Strukturen zu überwinden, da braucht es mehr Diversität, heißt, vor allem mehr Mitstreiterinnen, aber auch Menschen aus anderen musikalischen Kontexten. Ebenso brauchen wir mehr Probe- und Freiräume für die Dresdner Musiker. Was da in Klotzsche gerade mit der bevorstehenden Schließung von über 100 Proberäumen geschieht, ist einfach nur absurd und wirft Dresdens Popkultur wieder einmal weit zurück.« Auch beim Thema Finanzen wollen sie gern unabhängig und frei bleiben. Bislang finanzieren sie sich, bis auf die Projektförderung im letzten Jahr, ausschließlich selbst mit ihren Hauptjobs und viel Motivation, Zeit und Do-It-yourself-Geist.
Doch trotz allem Enthusiasmus für die Sache ist die Laune gerade schlecht, weil vieles von dem, was sie gerne realisieren wollen und schon konkret geplant hatten, seit einem Jahr nicht umsetzbar ist. »Auf der anderen Seite stellt das für uns auch eine Chance dar. Denn mit der Pandemie müssen viele bislang funktionierende Formate und Strukturen in der Musik- und Veranstaltungsbranche überarbeitet werden. Wir haben uns bereits seit unseren Anfängen vor der Pandemie mit diesen Themen beschäftigt und auch während der Beschränkungen Wege gefunden, verschiedene andere Projekte zu realisieren. Aber ohne Live-Shows fehlt natürlich der eigentliche Kern unserer Arbeit.« Ihr Motto lautete von jeher: »Wir wollen alles, bloß nicht langweilig werden.« Um es auch ein bisschen sarkastisch zu formulieren: Die aktuellen Umstände bieten zumindest dafür perfekte Rahmenbedingungen.
Robert E. Smith
www.massengrabrecords.de