Großer Bahnhof
Record-Release-Show von Freunde der italienischen Oper zu »Kassandras Komplex« am 3. Oktober im Schauspielhaus
Wie bitte? Die Record-Release-Show im Schauspielhaus? An Maßlosigkeit wohl kaum noch zu überbieten, oder? Skandalös findet das höchstens, wer die Bandgeschichte nicht besonders gut kennt. Anno 1990 ist es gewesen, dass die Freunde der italienischen Oper an selber Stelle in Wolfgang Engels sich über drei Abende ersteckender Inszenierung von Goethes »Faust« aufgetreten sind. Ein Jahr darauf konnte die Formation um Sänger Ray van Zeschau das Haus mit ihrem eigenen Programm füllen. Über eine Neuauflage des Spektakels wird schon länger nachgedacht.
»Kassandras Komplex«, das Album, dessen Erscheinen es zu feiern gilt, ist ein wahres Schwergewicht. Keineswegs unerwartet, denn an der Einspielung beteiligt waren ehemalige Mitglieder von Think About Mutation sowie The Legendary Tishvaisings, ihres Zeichens auch nicht unbedingt Vertreter des verhuschten Leisetretertums. Der Albumtitel nimmt logischerweise Bezug auf die tragische Figur der griechischen Mythologie, die immerzu vor drohenden Gefahren warnt und kein Gehör findet. Dass es auch einen Roman der Ostberliner Schriftstellerin Christa Wolf, betitelt »Kassandra«, gab, der das leichtfertig ignorierte Orakel der Antike in den Kontext der real existierenden DDR der Siebziger- und Achtzigerjahre stellt, wird spätestens bei der Entdeckung bewusst, dass mehrere Songs des Albums bereits um den Wendeherbst von 1989 herum entstanden beziehungsweise auf »Um Thron und Liebe«, dem Debütalbum, sowie obskuren Kassettenveröffentlichungen erschienen sind und jetzt – versehen mit Songtexten in deutscher Sprache – wiederkehren.
Fast kommt es einem vor, als wollte »Kassandras Komplex« den Fokus bewusst auf jenen geschichtsträchtigen Moment lenken? Nicht unbedingt, entgegnet Ray van Zeschau, aber drei Songs stammen ursprünglich aus der Zeit damals und thematisieren definitiv die Wende. Die Zeile »Es war in einer kalten Nacht, als Günter den Zettel las« in »Rogers Fall« nimmt beispielsweise Bezug auf Günter Schabowskis legendäre Pressekonferenz. Das Bemerkenswerte sei, erinnert sich Ray van Zeschau, »dass ich, als ich das im Fernsehen sah, zuerst gar nicht begreifen konnte, dass die Grenzen jetzt offen sind. Mit sofortiger Wirkung! Als gelernter DDR-Bürger stellte ich mir vor, dass ich trotzdem erst noch irgendwo einen Antrag stellen muss. Bei den ersten freien Wahlen entdeckte ich ein Wahlplakat, auf dem stand ›Freiheit will gelernt sein‹. Ich dachte, was meinen die? Wenn ich frei bin, bin ich frei, was gibt es da zu lernen? Es brauchte eine Weile, bis ich verstand, ach so, du musst dich jetzt selbst um dich kümmern. Dich nimmt keiner mehr an die Hand.«
Nicht eben wenige Ostdeutsche vermissen das An-die-Hand-genommen-Werden mehr als dreißig Jahre später offenbar immer noch und wünschen sich den einen Generalsekretär, die eine Einheitspartei, das eine Politbüro zurück, selbst wenn die Honeckers von einst dann Höcke oder Wagenknecht heißen. Handelt nicht »Des Volkers Jammer«, auf »Um Thron und Liebe«, in der englischen Version noch »People Run To Fun« benannt, genau davon? »Geht zurück in alte Zeiten Leute, bitte geht zurück dorthin, wo ihr nicht zu denken brauchtet. Seht, wie ihr mit blödem Grinsen durch die Straßen lauft. Da ist rein gar nichts, was ihr noch zum Leben braucht«, heißt es immerhin im Songtext?! »Geschrieben hatte ich das, als ich im November 1989 Ostdeutsche mit ihren Plastiktüten auf dem Kudamm in Westberlin sah, wie sie sich hinter Lkws von Kaiser's wegen Bananen anstellten und noch einen Kugelschreiber dazu bekamen. Wie würdelos das war! Deshalb sang ich damals von lecherous Marsupials, von geilen Beuteltieren.«
Weshalb jetzt überhaupt Songtexte auf Deutsch? »Ikarus – She Kill The Laugh«, ein vierter Song aus Wendezeiten und Beitrag zu Wolfgang Engels Inszenierung des »Faust«, lag von vornherein in deutscher Sprache vor, erläutert Ray van Zeschau. »Meine Bandkollegen fanden, ich sollte öfter auf Deutsch singen. Ohnehin sind unsere Songs immer zuerst auf Deutsch geschrieben gewesen und nachträglich mehr schlecht als recht ins Englische übertragen worden. Bei unserer Art von Musik hatte ich Angst, in Lindemann’sche Lyrik zu rutschen, was es zu verhindern galt. Aber ich schreibe auch für Zeitungen und Zeitschriften Geschichten und Rezensionen. Ich denke, ich habe die Kurve ganz gut gekriegt.«
Verschiedene Textpassagen sind nach wie vor auf Englisch, zwei Zeilen auch auf Bulgarisch. Ray van Zeschaus Vater, ein Biologe und späterer Filmregisseur, ist Bulgare, dessen Bruder ein bildender Künstler und beide ausgebildet an Hochschulen der DDR in Dresden. Gemeinsam mit seinem Vater drehte Ray van Zeschau den Dokumentarfilm »Mein Onkel Lubo« über den Bruder des Vaters. Die beiden bulgarischsprachigen Textzeilen auf »Kassandras Komplex« enthalten »Delyo Haydutin«, das zurückgeht auf »Izlel je Delyo Haydutin«, ein bulgarisches Volkslied, ziemlich berühmt, weil auf den Golden Records der Raumsonden Voyager I und Voyager II unterwegs zu fernen Galaxien. Das Original feiert Delyo, den Heiducken, der wacker gegen die Vorherrschaft der Osmanen kämpft. Ray van Zeschaus »Delyo Haydutin« ist ein Seitenhieb auf die teils monströse Political Correctness der westeuropäischen Gegenwart. »Weiße Männer sagen, wer ich sei, im Disneyland der Tyrannei. Darf nicht mehr schreiben was ich bin, mein Schnitzel ist jetzt auch dahin«, lautet eine Textpassage. Das musste sein, findet Ray van Zeschau. »Ziemlich viele Bulgaren heute sind Nachfahren von Zigeunern, und wenn es in den sozialen Medien um Rassismus geht und ich sage, ich bin kein alter weißer Mann, ich bin Zigeuner, mich hätten die Nazis nach Auschwitz verschickt, wird plötzlich mein Kommentar wegen Hassrede geblockt. Ich denke dann jedes Mal: Geht's noch? Bei meiner Familiengeschichte werde ich mich doch selbst Zigeuner nennen dürfen!«
Gegen Ende des Albums ist erfolgreich der Gedanke gestreut, dass wir irgendwie alle ein bisschen Kassandra sind. Verkörpert wird die Figur der griechischen Mythologie mit einem Schwarz-Weiß-Foto eines Mädchens mit einem alles durchdringenden Blick, sowohl auf dem Bookletfoto zum Eröffnungssong »Der Garten« als auch auf dem Albumfrontcover. Einer, der aus den Gründertagen der bekannt gewordenen Mark-II-Besetzung der Freunde der italienischen Oper als aktiver Künstler überlebt hat, wird bei der Record Release Show im Schauspielhaus einen Gastauftritt absolvieren. Die Rede ist von Roger Baptist, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Rummelsnuff.
Bernd Gürtler
Freunde der italienischen Oper: Kassandras Komplex 3. Oktober, 19.30 Uhr, Schauspielhaus, www.freunde-der-italienischen-oper.de