Großartige Erwartungen

Thielemann überzeugte mit Mahlers großer 3. Sinfonie

Dass Christian Thielemann als Wagner- und Strauß-Dirigent Weltruf genießt, ist weithin bekannt. Aber kann er auch Mahler? Die kurze und klare Antwort: Aber wie! Mitte Mai dirigierte Christian Thielemann die Staatskapelle Dresden bei Mahlers rund 100-minütigem Mammutwerk, seiner 3. Sinfonie. Der Rezensent hatte genau diese Sinfonie noch Ende Dezember mit dem als hervorragender Mahler-Interpret gerühmten Iván Fischer an dessen alter Wirkungsstätte (2012–2018, heute Ehrendirigent), dem aus einem Theater zum Konzertsaal umgebauten und umgewidmeten nunmehrigen Konzerthaus Berlin am Gendarmenmarkt genossen. Und daheim steht als Referenzaufnahme Soltis 1983er Dirigat jener Sinfonie mit dem Chicago Symphony Orchestra. Da hatte sich Thielemann großer Konkurrenz zu stellen und er bestand.

Unterstützt wurde er dabei von der hervorragenden Altistin Christa Mayer, den Damen des Sächsischen Staatsopernchores Dresden und dem Kinderchor der Semperoper Dresden Wie bereits die opulente Besetzung andeutet, hat Gustav Mahler in seine größte Sinfonie viel Musik hineingepackt. Allein der erste Satz, der zugleich mit „1. Abteilung“ überschrieben ist, dauert etwa eine halbe Stunde. Es folgt die zweite Abteilung, die ihrerseits noch einmal fünf Sätze enthält.  Das im Komponierhäuschen am Attersee entstandene, 1902 in Krefeld unter dem Komponisten selbst uraufgeführte Werk (Teilaufführung in Berlin 1897) entstammt den von glücklicher Schaffensfreude des Komponisten geprägten letzten Jahre des 19. Jahrhunderts.

Der erste Satz mit dem Titel „Pan erwacht. Der Sommer marschiert ein.“ beschreibt den nicht einfachen Kampf des sich langsam aus dem Dunkel des Winters über den unsteten Frühling hin zum Sommer losringenden Weg des Lebens und beginnt mit entschiedenem Hörnerruf  (Marschmelodie von 8 Hörnern). Es schwanken Choralanklänge mit Gassenhauern und immer wieder Marschrhythmen, bis schließlich am Satzende der Themenkomplex steht, mit dem das Werk dann betrieben wird. Mahler wollte mit dem Satz vertonen, wie sich „aus der unbeseelten starren Materie heraus allmählich das Leben losringt“.  Der folgende zweite Satz, der unbekümmerte „Pflanzensatz“ mit dem Satztitel „Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen“, der als zartes altertümliches Menuett beginnt, wird zwar auch von Sturm und Gewitter durchgeschüttelt, bleibt aber bis zum wehmütigen Ausklang vergleichsweise leicht.

Es folgt der dritte, der „Tiersatz“ mit Mahlers Titel „Was mir die Tiere im Walde erzählen“. Anklänge an Thematisierungen von Nachtigall, Kuckuck und Esel aus früheren Werken Mahlers, z.B. „Kuckuck hat sich zu Tode gefallen“, blitzen auf, aber auch der ewige Kampf ums Überleben. Allerdings enthält er mit mildem Hörnerklang und süßer Kantilene ein romantisches Sommeridyll. Im vierten Satz tritt der Mensch über die Altistin mit „Oh Mensch“ einer Passage aus Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ in Erscheinung. Nietzsche regte Mahler an, ohne ihn jedoch von der Gottlosigkeit zu überzeugen. Der Satz heißt: „Was mir der Mensch erzählt“.

Im fünften Satz „Was mir die Engel erzählen“ sind die Chöre mit wie bei mehreren von Mahlers Sinfonien Teilen aus „Des Knaben Wunderhorn“ im Einsatz, die zwar „himmlische Freud“ besingen, ohne daß eine vollständige versöhnliche Harmonie erreicht wäre. Anders im Finale „Was mir die Liebe erzählt“, das schon mit buchstäblich Pauken und Trompeten auf einen Scheinhöhepunkt hinsteuert, um unterbrochen durch ein ätherisches Flötensolo dann in einem feierlichen Choral der Blechbläser mit anschwellendem ganzen Orchester zuversichtlich in einem weihevoll hymnischen Ausklang zu enden.

Orchester und Chöre wie auch der Dirigent blieben bei ihrer Interpretation nichts schuldig. Die gewünschten Stimmungen des Komponisten wurden transportiert. Die Struktur arbeitete der immer auch sehr analytische Thielemann in seiner unnachahmlichen Weise akribisch heraus. Ein typischer Thielemann-Höhepunkt war dann auch, als er im letzten Satz seine Fähigkeit zu spannendem Piano bis Pianissimo aus den Streichern herausholt: ganz feine, zarte Klangschleier erschufen eine ergreifende Intimität, die das orgiastische Finale umso wirkungsvoller erscheinen ließ. Vielleicht wegen der intensiveren gegenwärtigen Zusammenarbeit mit seinem Orchester erarbeitete sich Thielemann sogar deutliche Vorteile gegenüber dem Mahler-Spezialisten Fischer.

Neben der Solti-Aufnahme  stellt diese Darbietung den Maßstab dar, an dem sich künftige Interpreten messen lassen müssen. Das ist auch deshalb überraschend, weil gerade die bei Mahler besonders geforderten Bläser immer als unerreichbare Spezialität der Solti-Chicagoer galten. Schon jetzt ist der Rezensent gespannt, wenn Thielemann im Juli 2024 mit Mahlers 8. Sinfonie, der „Sinfonie der Tausend“, seinen Abschied in Dresden geben wird. Die eben erlebte Darbietung der 3. Sinfonie Mahlers weckt großartige Erwartungen.
RA.