Es geht um Dinge, die das Menschsein betreffen

Interview mit Sven Helbig zu "I Eat The Sun And Drink The Rain"

Berichte über Sven Helbig beginnen  in der Regel mit Aufzählungen seiner vielfältigen Aktivitäten, was in gewisser Weise problematisch ist. Ob wirklich jeder weiß, wer gleich noch die Pet Shop Boys sind? Oder Rammstein? Sowohl für die einen als auch die anderen hat er gearbeitet, ebenso für den kalifornischen Rapper Snoop Dogg. Und wie genau passt das zu den eigenen Schallplattenveröffentlichungen, die streng genommen dem Klassikbereich zuzurechnen sind? Andererseits hat das emsige Abarbeiten von Referenzen etwas Gutes. Selbst weniger bewandertes Publikum dürfte eine vage Vorstellung entwickeln, dass Sven Helbig nicht nur einer Musikrichtung nachgeht. Bei genauerer Betrachtung wird sogar deutlich, dass hier jemand am Wirken ist, der einen ungeheuer reichen Erfahrungsschatz zu etwas gänzlich Neuem verschmilzt und von vornherein einen gesamtkulturellen Kontext mitbedenkt. Einer beherzten Einzelinitiative ist es zu danken, dass Sven Helbigs jüngstes Album »I Eat The Sun And Drink The Rain« (Neue Meister) nicht nur in Berlin, Hamburg, Danzig, Vilnius oder Buenos Aires zur Aufführung kommt, sondern auch in Dresden, wo der gebürtige Eisenhüttenstädter die Musikhochschule Carl Maria von Weber absolviert hat, Mitbegründer der Dresdner Sinfoniker war und nach wie vor (fast) jeden ersten Donnerstag des Monats bei der Open Mic Night im Blue Note Schlagzeug spielt.

Dein erstes eigenes Album »Pocket Symphonies« von 2013 enthielt instrumentale Orchesterminiaturen. »I Eat The Sun And Drink The Rain« überrascht jetzt mit Chormusik, die dezent mit Elektrosounds verwoben wird. Wie kam es dazu?
Das ist das Privileg des Komponisten, aus verschiedenen Musikformen auswählen zu können. Anders als bei einer Band, in der jeder auf sein Instrument und ein bestimmtes Genre festgelegt ist. Der Komponist sucht sich das am besten geeignete Mittel, und diesmal ist es Chormusik gewesen.

Warum?
Es geht um Dinge, die das Menschsein betreffen, und Chorgesang ist die ideale Metapher für das Miteinander von Menschen in Harmonie oder Disharmonie.

Demnach sind die gesungenen Worte nicht bloß ein Vorwand für den Komponisten, um eben auch mal Chormusik komponieren zu können? Die Form wird durch die Textinhalte bestimmt!?
Beliebige andere Texte hätten sich ebenso gut mit einer Solostimme und Ensemblebegleitung umsetzen lassen. Dass ich zum Chorgesang greife, hat tatsächlich mit den Inhalten zu tun. Mir geht es um die Ursprünge des Menschseins, und der Gesang ist die älteste Musikform der Menschheit. Mit Chorgesang bin ich bereits durch die Wahl der musikalischen Mittel dicht am Thema.

Das sollten wir vertiefen.
So schwer ist das gar nicht, es liegt in der Luft. Was ich meine, ist zum einen die Debatte, ob wir Flüchtlinge, die in Europa Schutz suchen, aufnehmen oder wegschicken sollten. Lassen wir Menschen im Mittelmeer ertrinken oder retten wir sie? Sobald jemand sagt, selbstverständlich müssen wir Menschleben retten, sieht sich derjenige dem Vorwurf ausgesetzt, ein Gutmensch zu sein. Ich will mich gar nicht allzu sehr zwischen die Stühle setzen. Aber mir ist wichtig, dass wir uns Klarheit verschaffen. Menschlichkeit, was ist das eigentlich? Humanität, wo beginnt das, wo hört das auf? Der andere mir wichtige Themenkomplex betrifft den digitalen Fortschritt. Stichwort künstliche Intelligenz, die den Menschen in einer nicht fernen Zukunft Entscheidungen abnehmen wird. Irgendwann muss irgendjemand einem selbstfahrenden Automobil algorithmische Formeln einprogrammieren, die festlegen, ob in Gefahrensituationen das Kind oder die Oma überfahren wird. Bei solchen Fragen müssen wir uns auf gemeinsame Werte verständigen. Wenn ich mir die Welt gegenwärtig anschaue, fürchte ich, dass wir weiter davon entfernt sind als je zuvor.

Ein Großteil der Liedtexte ist von dir selbst geschrieben.
Genau, ich schreibe schon sehr lange Texte. Bisher fand sich bloß kaum Verwendung dafür. Diesmal habe ich mich auch nicht unbedingt dazu entschlossen, weil ich es endlich wagen wollte. Vielmehr bin ich zu meiner Thematik woanders nicht recht fündig geworden. Moderne Lyrik passt nicht dazu. Deshalb dachte ich: Warum schreibe ich nicht selbst was. Mit dem neuen Album fühle ich mich eben doch sehr in einer alten Zeit verankert.

Stimmt, die Texte sind in einer altertümlichen Sprache verfasst. Wegen des uralten Menschheitsthemas, um das es geht sicherlich?
Moderne Sprache und Chorgesang sind schwer miteinander vereinbar. Das wird zu konkret, man verfällt ins Verkünden. Ich wollte ein musikalisches Ereignis schaffen, keine Agitation von der Kanzel betreiben. Entsprechend habe ich eine Sprache zwischen Tradition und Zeitlosigkeit gewählt, teils angelehnt an das Volkslied, um nachvollziehbar zu bleiben.

Einer deiner Fremdautoren auf »I Eat The Sun And Drink The Rain« ist Giacomo Leopardi, ein italienischer Philosoph und Autor des neunzehnten Jahrhunderts. Du vertonst sein Gedicht »L’infinito«. Was gefällt dir an seiner Lyrik?
Leopardi war Atheist, ein Skeptiker. Ich kenne sein literarisches Werk schon länger. Mit »L’infinito« beschreibt er etwas sehr Bekanntes völlig anders. Sehnsucht richtet sich üblicherweise auf den Horizont. Sein Gedicht erzählt von einem Busch oder einer Hecke, je nach Übersetzung, der beziehungsweise die den Blick verstellt. Er lobt die Einschränkung, die zwingt, Weite in der Innenschau bei sich selbst zu suchen. Ich fand das faszinierend!

Würdest du sagen, dass »I Eat The Sun And Drink The Rain« auf die eine oder andere Weise mit deinen Arbeiten für die Pet Shop Boys oder Rammstein verknüpft ist?
Schnittmengen gibt es mit allen Musikern, für die ich tätig werde. Mit den Pet Shop Boys bin ich mittlerweile eng befreundet. Bei ihnen begeistern mich die Textebene und ihre musikalische Konsequenz. Wir unterhalten uns viel über Architektur, über Kunst. Neil und Chris sind in Eisenhüttenstadt zu Besuch gewesen und wollten eine Stadtführung. Wir reden oft über die Zeit vor der Wende, die beiden sind ungemein belesen und wissbegierig. Mit ihnen arbeite ich nicht an ihrer eigenen Musik, wir realisieren gemeinsame Projekte außerhalb der Pet Shop Boys. Ständig bringen sie brillante Ideen an, wie die Ballettmusik »The Most Incredible Thing« oder das Orchesterwerk »A Man From The Future« über den britischen Mathematiker und Computerpionier Alan Turing. Bei Rammstein steuere ich ab und zu Minibeiträge zu ihrer eigenen Musik bei. Auch dort bewundere ich die Ernsthaftigkeit, mit der sie ihrer Kunst nachgehen. Auch mit ihnen bin ich eng befreundet.

Wie wird dein neues Album auf die Bühne gebracht?
Mit dem Thüringischen Akademischen Singkreis TASK, mit der Elektronik von mir, mit der Ausstattung der Berliner Modedesignerin Esther Perbandt und mit den Visuals des Isländers Máni M. Sigfússen, der das Albumcover gestaltet hat und ansonsten gern von Sigur Rós in Anspruch genommen wird.

Wenn bei der Open Mic Night im Blue Note jeder, der sich berufen fühlt, seinen Lieblingssong singen darf, spielst du seit Jahren das Schlagzeug der kompetenten Sessionband. Was macht die Veranstaltung für dich so besonders?
Ich liebe das Schlagzeug. Erstaunlich, wie sehr mich das Instrument noch immer fasziniert. Und ich finde es toll, dass ich während meiner Studienzeit durch die Bekanntschaft mit großartigen Musikern zur Open Mic Night gekommen bin. Mir würde etwas fehlen, wenn ich das aufgeben müsste. Andere treffen sich zum Skatabend, ich mich mit Musikerkollegen. Außerdem ist mir wichtig, dass jemand, der eher keine profunde musikalische Vorbildung mitbringt, ohne Karaoke-Klamauk sein Lieblingslied vortragen kann. Meistens kommen die Freunde mit, und es entsteht ein unmittelbares Musikerlebnis, das sich sonst eher selten ergibt. Normalerweise hat man auf der Bühne die Musiker, die durch ihr Können fern und exotisch wirken, und vor der Bühne das Publikum. Man spürt einen deutlichen Höhenunterschied. Bei der Open Mic Night wird das Geschehen auf der Bühne leicht verdichtet, aber eigentlich ist vor und auf der Bühne das gleiche.
Bernd Gürtler

www.svenhelbig.com

P.S.
Sven Helbig ist derzeit nicht der einzige, dessen Schallplattenveröffentlichungen üblicherweise im Klassikfach abgelegt werden. Unter seinen Mitbewerbern ist auch Arash Sarafin, der für sein Album »UeberBach« (Neue Meister) Passagen aus Johann Sebastian Bach-Kompositionen neu zusammengesetzt hat. Ein origineller Ansatz eigentlich, die Sampling-Technik auf die Klassik und ihre genretypischen Klangkörper anzuwenden. Der Witz allerdings dürfte sich nicht jedem erschließen, und am Ende bleibt es Klassik, lediglich mit Hilfe moderner Aufnahmeverfahren an Hörgewohnheiten der Gegenwart angepasst. Oder Matthias Arfmann, der auf »Presents Ballet Jeunesse« (Universal) nur die eine Stilrichtung mit den Mitteln einer anderen spielt, wenn er Kompositionen von Bizet, Prokofiew oder Tschaikowsky mit HipHop/Elektrobeats verbindet. Ähnliches hatten wir schon. Emerson Lake & Palmers »Pictures At An Exhibition«, eine Rockfassung von Mussorgskys »Bilder einer Ausstellung«, gehörte zum Standardrepertoire des Progressive Rock Anfang der siebziger Jahre. Bei Sven Helbig hingegen entsteht etwas Einzigartiges, das in die Zukunft weist und jedermann offen steht. Wie sehr er sich dem etablierten Klassikbetrieb verwandt fühlt, das beantwortet recht eindrucksvoll sein Album »Pocket Symphonies«. Auf dem Frontcover eine mit schwarzen und weißen Klaviertasten nachgebildete Hand, die den Stinkefinger zeigt. Eine starke Geste, die keines Kommentars bedarf.
Bernd Gürtler