Die Gleichzeitigkeit von Einfach und Komplex

Ein SAX-Gespräch mit Sven Helbig zum Jubiläumskonzert der »Pocket Symphonies« am 28. Oktober in der Schauburg

Foto: Claudia Weingart

Es hat eine Weile gedauert, bis der Komponist und Musiker Sven Helbig auch in seiner Homebase Dresden wachsende Anerkennung erfuhr. Ausverkaufte Record-Release-Konzerte, der Kunstpreis der Stadt, Gast der Musikfestspiele – das Blatt hat sich gewendet. Zehn Jahre nach seinem international gefeierten Solo-Debüt »Pocket Symphonies«, nach zwei weiteren Alben, Kollaborationen mit den Pet Shop Boys, Polarkreis 18, Olga Scheps, Rammstein, René Pape, dem Fauré Quartett oder Snoop Dogg kehrt Sven Helbig zurück zu den Anfängen: Am 28. Oktober gibt es mit einem Klavierquartett die Wiederaufführung der »Pockets« im großen Saal der Schauburg.

SAX: Bevor »Pocket Symphonies« vor zehn Jahren erschien, hattest du bereits Aufsehen erregende Projekte mit den Dresdner Sinfonikern produziert, einem Orchester, das du 1996 mit Markus Rindt aus der Taufe gehoben hast. Davor kannte man dich vor allem als gefragten Schlagzeuger zwischen Jazz, HipHop oder Balkan. Waren also die Sinfoniker deine Tür zur Orchestermusik?
Sven Helbig: Ich habe vor den Dresdner Sinfonikern auch schon viel klassische Musik gehört. Mit den Sinfonikern war dann der hautnahe Kontakt da und Orchestermusik wurde für viele Jahre zu meinem selbstverständlichen Alltag. Auf die Weise wurde das plötzlich vorstellbar, solche Musik selbst zu komponieren.

SAX: Wie reifte für dich der Schritt, sich aus allen bisherigen Umgebungen zu lösen, um fortan das Eigene in den Mittelpunkt des Schaffens zu stellen?
Sven Helbig: Das ist in langsamen Schritten gereift: Ein langer Whiskyabend mit Mirko Glaser, Musiker und Besitzer des Jazzklubs Blue Note, ein anregendes Gespräch mit Christian Kellersmann, dem damaligen Chef von Universal Classics & Jazz und viele Projekte als Produzent, bei denen ich gemerkt habe, dass mir musikalische Ideen durch den Kopf gehen, die ich gern umsetzen würde. Ich bin über den Schritt, eigene Musik zu schreiben, heute sehr froh und jedem dankbar, der mich in diese Richtung angeschoben hat. Manchmal verbarrikadiert die Hochachtung vor den alten Meistern den eigenen Weg.

SAX: Der Titel »Pocket Symphonies« trägt mehrere Aspekte in sich. Sinfonien für die Hosentasche, das Große im Kleinen, aber auch das fast gleichnamige Air-Album von 2007 bringt es in den Sinn. Man könnte auch meinen, ein Drei-Minuten-Stück kann keine Sinfonie sein. Andererseits: Wer legt das fest? Wie also kam es dazu: Zu deinem ersten Album, der Auswahl an Kompositionen, dem Titel?
Sven Helbig: Die Wortverbindung »Pocket Symphonies« ist ein Oxymoron, in welchem Winziges und Riesiges aufeinandertreffen. Bei Sinfonien denkt man an gewaltige Orchesterwerke. In den »Pocket Symphonies« werden kleine, unscheinbare Momente beschrieben, die einen aber enorm bewegen, zu größeren Entschlüssen, tieferen Einsichten führen, ähnlich wie der gesamte Bauplan für unseren Körper in jeder einzelnen Zelle zu finden ist. Die Gleichzeitigkeit von Einfach und Komplex, Fein und Grob, Hoch und Tief ist auch in der Anzahl der Stücke verborgen. 12 ist das Miteinander von 3 und 4. Im Tarot steht die 3 für das Spirituelle und 4 für das Irdische. Zum Album kam es, weil Christian Kellersmann von Universal Music meine kleinen Orchester-Intros und Arrangements gefielen, die ich für verschiedene Bands geschrieben hatte. Er meinte irgendwann einmal, ich soll doch die Bands einfach mal weglassen und er würde das Ergebnis veröffentlichen. Dass es dann gleich Deutsche Grammophon sein würde, habe ich nicht zu träumen gewagt. Ich habe mich dann lange auf dem Dachboden meiner Eltern in Eisenhüttenstadt eingeschlossen und über ein ganzes Jahr an dem Konzept und den Stücken gearbeitet.

SAX: Die Kunst bei eher kurzen Stücken liegt unter anderem darin, in nur wenigen Minuten alles sagen zu können, und dann auch ein prägendes Ende zu finden. Ein sinfonisches Auswalzen in mehreren Akten ist unmöglich. Hat dich das vor besondere Herausforderungen gestellt oder lag dir diese Herangehensweise quasi im Blut?
Sven Helbig: Mir fällt es eher schwerer, lange Stücke zu schreiben. Vier Minuten sind meine Lieblingslänge. Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich überwiegend mit Songs aufgewachsen bin. Auch in der Literatur begeistern mich Novellen, Kurzgeschichten und Gedichte. Größere Formate baue ich dann aus diesen kleineren Bausteinen.

SAX: Das Album beginnt mit dem fast dahingehauchten Klaviermotiv von »Am Abend«, ehe sich die Streicher in das Stück begeben, es dann kurz dramatisch wird und wieder zurückfährt. En vogue ist ja eher ein Einstieg mit mehr Furioso. Warum musste »Am Abend« am Anfang stehen?
Sven Helbig: Die 12 Stücke auf »Pocket Symphonies« beschreiben Gedanken zwischen einem anbrechenden Abend und dem Schlafengehen. In dieser Zeit überkommen einen oft Erinnerungen, Einfälle, Entschlüsse und besonders starke Emotionen, die das gesamte Spektrum ausfüllen, von Verzweiflung bis Euphorie. Der letzte Titel ist dann das friedliche »Schlaflied«. In seiner Kürze und Unscheinbarkeit war es für mich das wichtigste Stück auf meinem ersten Album. Es setzt eine Art Ausrufungszeichen hinter meinen Entschluss, keine experimentelle, zeitgenössische Musik zu schreiben.

SAX: Du hast deinem Geburtsort das Stück »Eisenhüttenstadt« gewidmet, eine Komposition, in der es mächtig dräut und heftig zur Sache geht, bis sie im Leisen verklingt, zudem mit reichlich fünf Minuten die längste. Von außen gesehen, ist Eisenhüttenstadt eine geplante Wohnanordnung des real existierenden Sozialismus, für dich aber ist es Ort der Kindheit, des Aufwachsens. Was ging dir beim Schreiben durch den Kopf? Und war es ein Unterschied, dass dich dieses Thema viel persönlicher berührt als etwa »Autumn Song« oder »A Tear«? Oder sind quasi alle Stücke sehr persönlicher Natur, nur, dass es nicht so offensichtlich ist?
Sven Helbig: Alle Stücke basieren natürlich auf meinen Beobachtungen und sind damit auch persönliche Geschichten. Ich mache mich aber auf allen meinen Alben nie selbst zum Gegenstand der Kunst. »Eisenhüttenstadt« ist hier ausnahmsweise einmal in der Ich-Form erzählt. Aber auch die Geschichte dieser Stadt steht eher als Metapher für Wolkenschlösser, die wir anscheinend unverrückbar bauen und bewohnen und dann über Nacht wieder abreißen, weil das Leben ein anderes geworden ist. In Eisenhüttenstadt habe ich über 20 Jahre gewohnt und eine glückliche Kindheit verbracht. Ich habe zwischen Plattenbauten, ohne Kirche, Schloss und alte Meister dennoch Kunst, Literatur und Musik für mich entdeckt. Wenn ich heute dorthin zurückkehre und anstelle meiner Schule oder dem Haus meiner Großeltern vor einem Unkrautfeld stehe, überfällt mich eine unbeschreibliche Melancholie. Auch auf unser Leben heute werden wir in 30 Jahren mit dieser Melancholie schauen.

SAX: »Zorn« etwa zeigt sich ganz anders, als es der Titel vermuten lässt. Es ist eher etwas Anschwellendes, Trauriges, nur kurz Eskalierendes. Ist das deine Art, zornig zu sein?
Sven Helbig: Im Zorn zahlt man immer eine fremde Rechnung. Es ist ein vergiftendes Gefühl. Dennoch kann er enorme Kraft entfalten. Diese Umwandlung in Schub nach vorn, habe ich hier versucht zu beschreiben.

SAX: In »Urban Perfume« lässt du es richtig krachen, fast überschlagen sich die Noten-Ereignisse. Auch hier eine Überraschung in Beziehung zum Titel.
Sven Helbig: Das Stück besteht aus Zitaten von vielen verschiedenen Komponisten, die in einem urbanen Hexenkessel zu etwas Neuem verschmolzen werden. Dabei fliegen natürlich ein paar Funken. Der Titel bezieht sich auf die unterschiedlichen, sehr typischen Gerüche vieler Städte

SAX: Die Premiere deines Debütalbums wurde 2013 im Albertinum inszeniert, damals war der Kulturpalast auch wegen des Umbaus geschlossen. Auf der Bühne spielte das MDR Sinfonieorchester mit Kristjan Järvi am Dirigentenpult. Wie ging es dir damit, erstmals dein Werk »abzugeben« und das Geschehen von der Seitenlinie zu betrachten?
Sven Helbig: Die Gestaltung des Lichthofes damals war sehr schön,aber das Zuhören war eine Qual. Ich habe mich die ganze Zeit hinter dem Mischpult versteckt und kaum zur Bühne gesehen. Es war das allererste Mal, dass Musik von mir mit meinem eindeutigen Absender auf einer Bühne gespielt wurde und ich konnte die empfundene Entblößung kaum ertragen.

SAX: Das MDR Sinfonieorchester war mit dem Fauré Quartett auch bei der Studioproduktion der »Pocket Symphonies« dabei. Wie wurdest du mit deiner Musik beim Klangkörper aufgenommen?
Sven Helbig: Das war eine angenehme Erfahrung. Kristjan Järvi und ich hatten vom ersten Moment an viel Sympathie füreinander. Inzwischen sind wir eng befreundet, haben viele Konzerte gemeinsam gespielt und auch mein Choralbum aufgenommen. Mit dem Fauré Quartett hatte ich vorher bereits als Produzent gearbeitet. Orchester sind generell sehr zurückhaltend, wenn neue Musik auf die Pulte kommt. Das Eis ist dann Stück für Stück getaut.

SAX: In der Schauburg spielst du das Jubiläumskonzert mit einem Klavierquartett. Wie wirst du ohne Orchester an die Aufführung herangehen?
Sven Helbig: Viele Orchesterparts ersetze ich mit Electronics. Einige Schlagzeug- und Vibraphonpassagen spiele ich selbst. Manchmal höre ich auch einfach nur zu. Die Stücke funktionieren auch in dieser Kammermusik-Fassung gut. Sie wirken natürlich sehr viel intimer als mit Sinfonieorchester. Wenn es laut und größer werden soll, helfe ich etwas nach.

SAX: Nach den »Pocket Symphonies« folgten 2016 das Chorwerk »I Eat the Sun and Drink the Rain« und 2022 mit »Skills« ein Instrumentalwerk, aufgeführt mit jeweils vier Blas- und vier Streichinstrumenten sowie Electronics. Deine musikalische Sprache hast du gefunden, aber die Umsetzung variiert deutlich. Ist das alles von Beginn an in deinem Kopf – Thema, Titel, Besetzung?
Sven Helbig: Ich gehe immer von der inhaltlichen Idee aus.  Dann überlege ich mir, wie ich das musikalisch ausdrücken kann und mit welcher Besetzung es sinnvoll wäre. Vorher kann ich nicht beginnen. Mir würde einfach überhaupt nichts einfallen. Wenn ich eine Geschichte im Kopf habe, geht es fast von allein. Dann habe ich eine genaue Vorstellung, was ich erzählen will und muss eigentlich nur warten, bis sich etwas zeigt. Das mache ich auch nicht am Instrument. Ich sitze am liebsten irgendwo und starre vor mich hin.

SAX: Wie ist es nach Erscheinen Deines Debüt-Albums für dich weitergegangen?
Sven Helbig: Ich bin sehr glücklich, dass ich mit meiner Musik an so vielen Orten zu Gast sein durfte. Ich konnte in Nord-, Mittel- und Südamerika spielen, in fast allen europäischen Staaten und in Asien. Gerade bin ich zurück von einem bewegenden Konzert in Indonesien. Nach Dresden geht es weiter in Portugal. Der Erfolg war nicht absehbar und ich kann es an manchen Tagen immer noch kaum glauben. Auch daher möchte ich dieses erste Album mit einem kleinen Geburtstagskonzert feiern.

SAX: Dein Album »Skills« hast du noch unter erschwerten Corona-Regeln in der Staatsoperette uraufgeführt. Nun wird deine Musik wieder in das Haus zurückkehren mit dem Ballett »Alice im Wunderland«, das am 2. Dezember 2023 Premiere haben wird. Was darf man erwarten? Ballett-Erfahrung gibt es ja bereits aus der Zusammenarbeit mit den Pet Shop Boys.
Sven Helbig: Die Idee, »Alice im Wunderland« mit meiner Musik zu gestalten, kam vonseiten der Staatsoperette. Die Geschichte wird mit alten und neuen Stücken von mir erzählt. Der Choreograf Radek Stopka hat das wunderbar gemacht. Inzwischen ist sogar die Komposition eines »Froschballetts« fertig. Humorige Stücke fallen mir extrem schwer. Mal sehen, ob es funktioniert. Ich freue mich, dass es mit der Staatsoperette ein Haus in der Stadt gibt, mit welchem man direkt und offen über Ideen sprechen kann, ganz ohne Dünkel und Allüren.

SAX: Du bist Jahrgang 1968, die ersten prägenden musikalischen Eindrücke stammen also aus den 1970er-Jahren. Was blieb von damals hängen in den Ohren des Sven Helbig?
Sven Helbig: In Eisenhüttenstadt konnte man RIAS 2 empfangen. Ich bin mit Lord Knuts »Schlager der Woche« groß geworden. Da lief allerdings kein Schlager, sondern jede Menge Stevie Wonder, James Brown und Al Jarreau.

SAX: Stimmt es, dass dein erstes Instrument die Klarinette war, und wann hast du das letzte Mal eine gespielt?
Sven Helbig: Ja, das stimmt. Dass ich eine gespielt habe, dürfte über 30 Jahre her sein.

SAX: Wann war für dich klar, dass du nur Musiker sein willst, und haben dich deine Eltern dabei vorbehaltlos unterstützt?
Sven Helbig: Richtig klar wurde mir das etwa in der 11. Klasse. Da kamen viele Dinge zueinander. Inzwischen hatte ich einen Kassettenrecorder und habe intensiver Musik gehört. An der EOS in Eisenhüttenstadt gab es viele Freunde, die Musik gemacht und Konzerte organisiert haben. Der ehemalige Dresdner Musikstudent Wolfgang Bernstein wurde als Musiklehrer nach Eisenhüttenstadt geschickt und hat mir viel über Musik beigebracht und mir Platten vorgespielt. Meine Mutter hat ein Kulturhaus geleitet, wo ich sehr regelmäßig Konzerte hören konnte. Ich hatte von zu Hause aus immer volle Unterstützung, neben aller berechtigter Sorge, ob man von Musik leben kann.

SAX: Du hast in den Neunzigern im New Yorker »Café Wah?« regelmäßig die Open-Mic-Nights erlebt, später dann viele Jahre das Format im Blue Note am Schlagzeug begleitet. Was nimmt man aus dieser Klub-Zeit mit, was bleibt an Erfahrungen?
Sven Helbig: Ich kann sagen, dass diese Zeit, speziell diese Abende in New York, den größten Einfluss auf meine Musik und die Art, über Kunst zu denken, hatten. Im »Café Wah?« war ich oft der einzige Weiße. Gespielt wurden R&B und Funk. Das Besondere war die intensive Verbindung zwischen der Band und dem Publikum. Alle kannten die Songs, sangen mit und es war kein Gaudi, sondern eine tief empfundene, gemeinsame Verwurzelung. Das kannte ich in dieser Stärke nicht. Mir ist dort klar geworden, dass ich immer Musik für meine Familie und Freunde machen möchte. Das ist in dem Genre »Orchesterkomposition« nicht selbstverständlich.

SAX: Für Radio Eins produzierst du seit sechs Jahren die Sendung »Schöne Töne«. Am 7. Juni wird es in der Staatsoperette im Rahmen der Musikfestspiele eine Live-Fassung geben. Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Sender und wie kann man sich die Bühnenversion vorstellen?
Sven Helbig: Ich war bei Radio Eins zu einem Interview für ein neues Album eingeladen. Danach hat mich die damalige Musikchefin Anja Caspary gefragt, ob ich mir eine eigene Musiksendung vorstellen könnte, weil ihr gefiel, was ich über Musik erzählt habe. In der Sendung fließen Klassik und viele andere Genres ineinander. Genau so bringe ich das in Berlin zwei Mal im Jahr mit einem Orchester und verschiedenen Gästen auf die Bühne. Zwischen den Sets von drei bis vier Titeln erzähle ich etwas zu den Stücken und Komponisten. Auf das Programm in Dresden freue ich mich besonders, denn es werden die großartige Geigerin Noa Wildschut und der Akkordeonist Mario Batkovic dabei sein.
Interview: Uwe Stuhrberg

Sven Helbig: 10 Jahre Pocket Symphonies 28. Oktober,
20 Uhr, Schauburg, Karten bei saxTicket und an allen weiteren Vorverkaufskassen, Tickets print@home
https://www.svenhelbig.com