Religiös, aber modern?
»Ultraorthodox« von Dresdens Rabbi Akiva Weingarten
Bei einem Gang durch das Jerusalemer Viertel Mea Shearim kann man sich um Jahrhunderte zurückversetzt fühlen. Hier sind die orthodoxen, nein: ultraorthodoxen Juden zu Hause. Sie wollen nicht fotografiert werden und tragen Kleidung wie aus längst vergangenen Zeiten. Weil sie auf Äußerlichkeiten nichts geben (tun sie es mit ihrer zur Schau getragenen Uniformierung nicht gerade doch?), halten sie sich für besonders vorbildlich und fromm.
Wäre der gesamte Staat Israel von dieser auf Askese und Gebet zielenden Verinnerlichung geprägt, stünde er zumindest wirtschaftlich wohl längst am Abgrund. Dieser ideologischen und auch intellektuellen Enge treu zu bleiben, fällt sicherlich schwer. Die Menschen ordnen sich entweder unter und erwarten dies ebenso von ihren vielen Nachkommen – eine fortgesetzte Form der Selbstverleugnung –, oder sie steigen tapfer aus diesen geistigen Beschränkungen aus. Was in der strengen Welt vorgestrig erscheinender chassidischer Juden keineswegs leicht ist.
Der Dresdner Rabbiner Akiva Weingarten hat es gewagt und erfolgreich getan. Nun hat er ein Buch über seinen mutigen Ausstieg verfasst: »Ultraorthodox« heißt es und wird ihm ganz gewiss nicht nur Freunde bescheren. Doch ein Dasein im Kosmos permanenter Regulierung wollte und konnte er für sich nicht dauerhaft hinnehmen. Dabei berichtet er nicht mal aus dem historisch im Vorvorgestern vor Anker gegangenen Stadtteil Mea Shearim der ansonsten durchaus weltoffenen Stadt Jerusalem, sondern aus seinem bisherigen Leben in der sogenannten Satmarer Gemeinschaft ultraorthodoxer Juden in den ach so aufgeklärten Vereinigten Staaten von Amerika. Bevor er dieses Zeugnis verfasst hat, das nicht nur die eigene Biografie dokumentiert, musste er lange mit sich ringen, bekennt er.
Das Resultat ist eine schonungslos abgelegte Rechenschaft über die mühsam errungene Selbstbestimmtheit. Denn aufgewachsen ist Akiva inmitten einer zahlreichen Geschwisterschar geradezu fremdbestimmt. Der Vater hatte sich dem Studium der Torah und der familiären Vermehrung verschrieben. Später, im Internat, wurde er von Rabbinern geschlagen und sollte chemisch quasi kastriert werden. Unmenschliche Übergriffigkeiten gibt es nicht nur im deutschen Katholizismus.
Akiva Weingarten hat einen Weg gefunden, sich daraus zu befreien. Erst wollte er ganz mit dem Judentum brechen und als Mediziner tätig sein, dann besann er sich auf den Kerngedanken seiner Religion. Schließlich wurde der 1984 in New York Geborene Rabbiner von Dresden. Er hat es geschafft, sich aus seinem früheren Leben in einem unmenschlichen Korsett strengster Regeln selbst zu erlösen. 365 Verbote und 248 Gebote galt es da zu befolgen. Die Satmarer glauben angeblich bis heute, dass die Shoah eine Strafe gewesen sei, weil die Juden nicht genug fromm waren. Ergo: Sie wollten frommer und noch frommer werden.
Ob Akivas Großeltern, ungarische Juden, die Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt haben, das wohl so gewollt hätten? Über ihre Traumata schwiegen sie bleiern, berichtet der Autor. Just in Deutschland, in Berlin, fand Akiva Weingarten nach seiner Flucht aus dem ultraorthodoxen Gefangensein durch intensive Gespräche mit Christen und Juden zu seinem Glauben zurück. Inzwischen hat er eine Bildungsstätte für israelische Aussteiger aus dieser Strengstgläubigkeit etabliert. In Dresden, nicht etwa im Jerusalemer Viertel Mea Shearim.
Michael Ernst
Akiva Weingarten: Ultraorthodox
Gütersloher Verlagshaus, 20 Euro