Mit Volldampf ins Surreale
Kurze Prosa von Wolfgang Hegewald
Hier gibt es die »Seniorenanimationsresidenz Twitterinchen« und »frostresistenten Narzismus aus Bodenhaltung« und den Hund Enrico, der als genialer Martinshornimitator zwar nicht Opernsänger aber »Arbeitersamariterhund« wird. Rausschmeißer und Türsteher gibt es, so genannte »Hosenträger der Erkenntnis«, besonders flexibel und »von schnippischer Gemütlichkeit« und Heribert, »bei dem nur ein Hoden angelegt war« oder auch Dickhornschafe, unter denen »schwule Böcke« beobachtet worden sind.
Nachgelesen werden kann das bei dem Wahl-Hamburger Wolfgang Hegewald, 1952 in Dresden-Klotzsche geboren, der diese und andere Denkwürdigkeiten in »XX Capriccios« auf jeweils zwei bis sechs Seiten versammelt. Capriccios? Gehören die nicht in die Sparte Musik, Stücke die besonders spielerisch und scherzhaft sind, wie Beethovens »Wut über den verlorenen Groschen«? Gewiss, aber Capriccios, die von Haus aus kapriziös und Regelbrecher sind, funktionieren seit längerem auch ohne Musik. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, behauptet der Autor bereits auf der ersten Seite, dass zur Aufzucht von Capriccios eine Art Farm entstanden sei, die zwar jede Menge Neugierige anlockt, in der es aber wenig zu sehen gibt, weil »sich ein Capriccio bei Tag äußerst selten« zeigt.
Wie schon in seinem »Lexikon des Lebens« (2017) beschreibt Wolfgang Hegewald herzerfrischend und fintenreich alltägliche Beobachtungen, die urplötzlich mit Volldampf ins Surreale abbiegen. Ein See, der »gern einmal aus Italien herausgekommen wäre«, um sich »weiter nördlich eine neue Existenz« aufzubauen. Oder der Bahnhof Erzburg, wo die Kanzlerin eine fröhliche Stationsvorsteherin »mit Dienstmütze, Trillerpfeife und Kelle« gibt und im Bistro »Martin Walser in Lederhosen und Lodenjanker« liest. Neben der Erwähnung einer Vogelweide, unweit der Wohnanschrift des Autors zu finden, und der Umschlagabbildung von Ulrike Greve, unschwer als Ehefrau des Autors zu benennen, folgt eine weitere Anspielung im letzten Capriccio.
Darin zählen nicht nur die Idole eines »Büchermannes«, die »allemal Karl hießen« zu den Protagonisten (May, Marx, Kardinal Lehmann, Lotto King, Lagerfeld, Jaspers), plötzlich steht auch, angesichts einer Box mit gebrauchten Büchern, die Frage im Raum: »Heute was von Heißenbüttel dabei?« Heißenbüttel, der zwar nicht Karl, sondern Helmut hieß und 1996 in Glückstadt verstarb, das so gut wie zu Hamburg gehört, und deshalb vermuten lässt, Hegewald habe Heißenbüttel gekannt oder wenigstens dessen »Fallstudien« hinsichtlich einer phantastisch überhöhten Prosa verehrt. Aber auch das kann nur wieder eine der titelgebenden Fallen sein kann.
M.Wüst.
Wolfgang Hegewald: Fälle und Fallen Wallstein Verlag, Göttingen 2020, 16 Euro
www.wallstein-verlag.de