Ein Jahrhundert überfliegen

Neue Gedichte von Volker Braun

Seinem Motto gemäß – »Gedichte sind der Kern meiner Arbeit« – legt der 1939 in Dresden geborene Volker Braun nach elf Jahren einen neuen Gedichtband vor. Gut Ding will Weile haben. Und die Weile hat wahrlich für »gut Ding« gesorgt. Seit seinem 1965 erschienenen ersten Gedichtband »Provokation für mich« provozieren seine Texte nicht nur ihn selbst, sondern vor allem seine Leser. War er den realen Sozialisten lange Zeit ein unangepasst kritischer Gesinnungslump, galt er zur selben Zeit den wirklichen Gesinnungslumpen als ein Treubraver mit Sklavensprache. Von Anfang an wurde ihm der Platz zwischen den Stühlen zugewiesen, haben alle seine Bücher, Stücke und Reden polarisiert, ob er wollte oder nicht.

Bei ihm mag man gar nicht an die germanistische Erfindung vom »lyrischen Ich« denken. Vielmehr darf vermutet werden, dass sich der Autor mit jeder Faser höchstpersönlich einbringt, wenn er die Erste Person Singular verwendet. So auch in seiner neuen Sammlung. Das Eröffnungsgedicht »Bestimmung«, acht gereimte Verse, kann als Fundament gelten für alle Strophen, die danach folgen. »Ja, mein Sehnen geht ins Ferne/Wo ich heitre Dinge treibe./Doch bestimmen mich die Sterne/Daß ich fest am Boden bleibe.« Mit etwas Phantasie hört der Leser hier Anklänge an einen oft verwursteten Goethe-Vierzeiler, was beim Dialektiker Volker Braun durchaus etwas heißen will. »Willst du immer weiter schweifen?/Sieh, das Gute liegt so nah./Lerne nur das Glück ergreifen,/Denn das Glück ist immer da.« Aber was Goethe den Nachgeborenen ins Stammbuch geschrieben hat, ist längst ausgehebelt, weit und breit wenig »Gutes« auszumachen. So weit der Dichter auch reist, er findet Kriege, Armut und Hunger, Unbehaustheit der Sprache und Verwilderung der Gesellschaft. Nicht umsonst heißt ein zehnteiliges Langgedicht »Wilderness«, was nicht nur mit Wildnis und Wüste, sondern auch mit Wirrwarr oder Durcheinander übersetzt werden kann.

Hier beruft sich Braun auf das aus dem Jahr 1667 stammende Epos »Das verlorene Paradies« von John Milton, lässt aber auch Bezüge zu Pasolini und Pound anklingen. Zu Beginn werden »störrische Worte« und »scheue Verse« beschworen, die erst nach eindringlichem Locken »ohne Zögern« zu Strophen werden. Mit den strandenden Migranten von Cádiz, im »Bombodrom« Bagdad, auf dem Airport Cape Town, am »Kilometer Null der Empörung«, auf Utøya mit dem Massenmörder Breivik, bei den Twin Towers von Manhattan wächst das unabweisbare Gefühl der Müdigkeit und »Material der Macht zu sein«. Am Ende, der »Untergeist überfliegt ein Jahrhundert«, muss resümiert werden, dass nurmehr »Lust, nicht Hoffnung … aus dem Rohstoff« gezogen werden kann.

Trost findet sich nur noch, wenn »diese kleine Hand, die sich in deine schmiegt«, zur »Süße des Augenblicks« gerinnt. Folgerichtig und altersgemäß gönnt sich Volker Braun einen seltenen privaten Moment, wenn er mit »Das Früchtchen« ein Enkelgedicht  beisteuert: »Wie ich mich wiedererkenne in dem Kleinen/Anmutig wild auf seinen festen Beinen./Noch keine Scham, noch mit sich selbst im reinen/Und offen will dieselbe Welt ihm scheinen.« Diese Gedichte sind keine leichte Kost. Weder schließt sie oberschlaue »Coolness« in hermetische Eiswürfel ein, noch werden sie zum Zweck der Massentauglichkeit flach gehalten. Der Dichter Volker Braun hat es geschafft, sich treu zu bleiben. Das können seine Leser auch.
M. Wüst.

Volker Braun: Handbibliothek der Unbehausten
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 20 Euro
www.suhrkamp.de