Über die Unendlichkeit
Ein Meisterwerk bedient die Lust am Sehen und die Lust am Nachdenken
Die Verletzlichkeit des Menschen und die Schönheit des Lebens sind für den Schweden Roy Andersson zwei Seiten einer Medaille. Mit seinen starren und surrealen Tableaus entpuppt er sich als genauer Beobachter der Banalität des Alltags, die er mit technischer Perfektion und Poesie verbindet. Das ist oft überspitzt und immer mit einem lakonischen Humor verziert, auch wenn die Situation zum Heulen ist und Endzeitstimmung in der Luft liegt. Eine weibliche Stimme erzählt seltsame Geschichten wie aus einem Märchen. Da verliert ein Priester seinen Glauben und eilt zum Psychiater, fragt verzweifelt, was er tun soll.
Der lässt ihn mit seinem Kummer allein: »Tut mir leid, ich muss meinen Bus kriegen.« Der Busplan ist wichtiger als der Mensch. Die Szenen folgen einander auf den ersten Blick zusammenhanglos, verdichten sich dann zu einem eigenwilligen Zeitmosaik. Am Anfang schwebt ein Liebespaar über das vom Krieg zerstörte Köln, ein Vater bindet im Regen seiner kleinen Tochter die Schuhe, beim Zahnarzt leidet der Patient Qualen, in der Kirche betrinkt sich der Pfarrer mit Messwein, im Lokal schweigt sich ein Paar an und nippt am Schampus, und, und, und.
Der Meister der Absurdität mag keine taffen Gewinner, hasst den Zwang zum Glücklichsein. Seine Bilder sind bewegte Gemälde, seine Inspiration ist die Malerei, vor allem die Künstler der Neuen Sachlichkeit, die Rückbesinnung auf die Welt des Sichtbaren. Hier beeinflusste ihn Otto Dix’ »Porträt der Journalistin Sylvia von Harden«. Wie schon in seinen früheren Filmen, darunter »Eine Taube sitzt auf einem Dach und denkt über das Leben nach« arbeitet er mit gedeckten Farben, keine Signalfarben dürfen die Konzentration stören. Sein Meisterwerk bedient die Lust am Sehen und die Lust am Nachdenken. Dafür gab es in Venedig verdient den »Silbernen Löwen« für die Beste Regie.
Margret Köhler
Über die Unendlichkeit Schweden, Deutschland, Norwegen 2019, Regie: Roy Andersson
Mit Martin Serner, Jessica Lothander, Tatjana Delaunay, Anders Hellström
Im Programmkino Ost, in der Schauburg und im Zentralkino