Shane

Ein beeindruckender Film über den Frontmann der The Pogues

Mit Punk startete der vielseitige Julian Temple seine vor allem von der Musik geprägte Regiekarriere. Schon sein zweiter Film sorgte für ordentlich Furore: »The Great Rock & Roll Swindle« schilderte 1980 das Werden und Vergehen der Sex Pistols. 2007 war es dann »Joe Strummer – The Future Is Unwritten«, der dem früheren Frontmann von The Clash ein würdiges Denkmal setzte. Nun also ein Film über Shane MacGowan, der mit seiner Band The Pogues in den Achtzigern den Irish Folk mit satter Punk Attitude und großartiger Lyrik in die Welt trug.

In einer ebenso wilden wie stimmigen Collage aus Interviews, Konzertausschnitten, Zeitdokumenten, Filmschnipseln und inszenierten Szenen zeichnet Julian Tempel MacGowans Leben nach – die Jahre der bitteren Armut in Tipperary, die ersten Kontakte mit der heimischen Musik und dem Alkohol, dem Umzug in die Diaspora nach London und dem damit verbundenen Unglücklichsein. Schließlich startet der hagere Bursche mit dem schrecklichen Zahnwuchs und dem röchelnden Lachen seine erste Punkband The Nipple Erectors. 1981 dann wendet er sich – noch immer in der Londoner Fremde – wieder der heimatlichen Musik zu, behält aber die Härte und den Lifestyle des Punk aufrecht. Dabei waren The Pogues ein Anachronismus: Folk ist nirgendwo, Punk ist durch, Rock am Ende, der Eighties-Pop setzt zum Siegeszug an. Und da kommt diese Bande, und feiert weltweit Erfolge.

Immer wieder kehrt der Film zu vier Interviews zurück, die vermutlich 2019 gedreht wurden. Die Fragenden sind Johnny Depp, der den Film auch produzierte, der ehemalige Sinn-Féin-Vorsitzende Gerry Adams sowie die Journalistin Victoria Mary Clarke, langjährige Lebensgefährtin und seit 2018 Ehefrau des Protagonisten. Während diese drei eher buddymäßig im Gespräch sind, klingen die Fragen von Bobby Gillespie (Primal Scream) wesentlich interessanter wie auch MacGowan darauf manchmal nicht antwortet. Man erfährt auch, warum über dem größten Hit der Band, "Fairytale of New York", ein Schatten liegt, und dass der Sänger einen anderen Gassenhauer, "Fiesta", schon immer gehasst hat.

Die zweite Phase der Pogues nach der Wiedervereinigung mit Shane MacGowan spielt merkwürdigerweise keine Rolle, auch die Popes werden nur kurz erwähnt, The Shane Gang gar nicht. Nach zwei Stürzen im Rollstuhl sitzend, ist es im Film hart zu sehen, wie der einst vor Leben Überbordende nun oft mit leerem Blick vor sich hin starrt. Zum 60. Geburtstag des Barden findet im Januar 2018 ein großes Tribute-Konzert statt, unter anderem mit Nick Cave, Carl Barat, Bobby Gillespie, Cerys Matthews, Glen Matlock, Johnny Depp, Cait O’Riordan, Glen Hansard, Terry Woods, Bono und Sinéad O’Connor. Schließlich wird MacGowan auf die Bühne geschoben, Cave singt mit ihm "Summer in Siam" und tätschelt ihn dabei – sicher lieb gemeint – wie eine Pflegekraft den dementen Patienten. Kein Wunder: MacGowan wurde damals als todkrank beschrieben. Und doch, da ist noch immer eine Menge Shane. Auf jeden Fall mehr als man glaubt.
Uwe Stuhrberg

Shane
Großbritannien, Irland 2020, Regie. Julian Temple
Zu sehen im Programmkino Ost, in der Schauburg und im Zentralkino
www.neuevisionen.de