Grand Army
Teenager zwischen Ausgrenzung, Erwartungsdruck und Identitätssuche
Das Theaterstück »Slut: The Play« (Schlampen) wurde 2013 auf dem New York Fringe Festival mit großem Erfolg uraufgeführt. Katie Cappiello verarbeitete Erfahrungsberichte Jugendlicher, die sie als Theaterpädagogin jahrelang gesammelt hatte, und schrieb und inszenierte die Geschichte um ein 16-jähriges Mädchen, welches von Freunden vergewaltigt wird. Das Medienunternehmen Netflix nahm den Stoff als Basis für die Serie »Grand Army« und verpflichtete Cappiello als Produzentin und Co-Autorin. Herausgekommen ist keine übliche Coming-of-Age-High-School-Story mit Liebesdramen im On-Off-Wechsel und standardisierter Problemaufzählung, sondern eine der vielleicht besten Jugendserien seit »Skins«.
Schon der Einstieg in die Serie verlangt Protagonisten wie Zuschauern einiges ab, wenn Joey in einer Klokabine ihrer Freundin Claire ein benutztes Kondom aus der Vagina zieht. Ein echter Vertrauensbeweis. Busenfreundinnen fürs Leben. Doch weit gefehlt, denn im Handlungsverlauf vertraut und glaubt die eine der anderen nicht, von Freunden missbraucht worden zu sein, und hängt lieber mit den Beschuldigten ab. Aus der selbstbewussten guten Schülerin, die keine Chance ausließ, ihre Emanzipation zu leben, wird eine von Scham und Schuldgefühlen gebeutelte Außenseiterin. Doch die Serie verhandelt noch andere Themen als Täter-Opfer-Umkehr, Slutshaming und sexuelle Gewalt.
Bei der Suche nach Anerkennung und einem Platz im Leben auftauchende ernste Problemfelder wie Rassismus, Ausgrenzung, Erwartungsdruck, Identitätssuche und sexuelle Selbstfindung werden am Beispiel von fünf Teenagern verschiedenen sozialen und kulturellen Backgrounds eindringlich, schonungslos brutal und größtenteils tiefschürfend beschrieben. Dass man sich, hat man sie einmal angefangen, dieser Serie kaum entziehen kann, liegt neben dem erzählerischen Sog vor allem an dem authentisch anmutenden Spiel der Haupt- und Nebendarsteller. Und in einem Nebenstrang erhält man (oder Mann?) eine Aufklärung über die Klitoris. Interessantes Nebenwissen: Der Großvater von Odessa A'zion, einer der hauptdarstellerinnen, ist der deutsche Regisseur Percy Adlon.
Patrick-Daniel Baer
Grand Army USA 2020, Creator: Katie Cappiello
9 Folgen, Netflix, im Videolink die komplette erste Episode