Wiedersehen mit Oskar
Das Albertinum zeigt Oskar Zwintscher und Kunst um 1900
Die Moderne ist eine Erzählung, die manche zu Protagonisten gemacht und viele andere ignoriert hat, die einige Geschehnisse betont, andere unerwähnt lässt, die dehnt, rafft, unter- und übertreibt. Der Maler Oskar Zwintscher (1870–1916) gehörte lange zu den Verlierern der alten Fortschrittserzählung der Moderne, wurde seine Kunst doch bis vor einigen Jahren nicht selten als schwüler Jahrhundertwende-Kitsch abgetan.
Mehr als 100 Jahre nach seinem frühen Tod und genau 40 Jahre nach der letzten großen Zwintscher-Schau im Albertinum 1982 widmen die Staatlichen Kunstsammlungen dem wohl bedeutendsten Vertreter des Jugendstils in der Dresdner Malerei nun eine Personalausstellung, die ihn weder als Endprodukt des 19. Jahrhunderts (Fin-de-siècle!) noch als Einzelphänomen betrachtet, sondern als einen Vertreter jener vielgestaltigen, oft widersprüchlichen Kunst um 1900 in Europa, wo Tradition nicht den Gegenpol zum Modernen bildet, sondern Teil davon ist. Folgerichtig ist Zwintschers Werk im Albertinum nicht allein, sondern zusammen mit Arbeiten anderer Künstlerinnen und Künstler der Jahrhundertwende zu sehen: neben Werken von Arnold Böcklin, Ferdinand Hodler, Paula Modersohn-Becker, Franz von Stuck, Gustav Klimt und anderen.
Zwintscher kam 1870 in Leipzig zur Welt und starb früh, im Jahr 1916, im Alter von nur 46 Jahren, in Dresden-Loschwitz. Schon 1887 nahm er in seiner Geburtsstadt sein erstes Studium an der Akademie für Buchgewerbe und graphische Künste auf (später sollte er zum Broterwerb Karikaturen für die Meggendorfer Blätter zeichnen und kurz mit der Meißener Porzellan-Manufaktur zusammenarbeiten). 1890 wechselte er nach Dresden, wo er an der Kunstakademie bei dem Realisten und Porträtisten Leon Pohle und für ein – nach eigener Aussage – verlorenes Jahr im Meisteratelier von Ferdinand Pauwels studierte. 1892 ließ sich Zwintscher in Meißen nieder. Das klingt unspektakulär, aber gerade angesichts der Tatsache, dass die Mehrzahl der jungen deutschen Künstler um 1900 nach Italien, vor allem aber nach Paris pilgerte, ist Zwintschers Ortswahl Meißen, wo er mehr als zehn Jahre lebte und deren Altstadt und Umgebung er oft darstellte, alles andere als selbstverständlich. Für das Gemälde »Dein Wille geschehe«, das ein todkrankes Mädchen in einer ärmlichen Stube zeigt, wurde Zwintscher 1898 mit einem Stipendium der Munkelt‘schen Stiftung für sächsische Maler ausgezeichnet, das ihm drei Jahre freies Schaffen ermöglichte. Im gleichen Jahr heiratete er die Meißnerin Adele Ebelt (1872–1942), die bis zuletzt sein bevorzugtes Modell blieb.
Schon um 1895/96 hatte Zwintscher München besucht, wo er die Schackgalerie mit Werken Böcklins und Anselm Feuerbachs besichtigte und in Kontakt kam mit für ihn prägenden jungen Künstlern wie Max Slevogt. Entsprechend schuf Zwintscher zunächst Landschaftsgemälde in impressionistischer Manier, wobei er die Darstellungen zunehmend symbolistisch, Böcklin und Feuerbach im Hinterkopf, auflud. Bei der Farb- und Figurengestaltung orientierte er sich dagegen am überfeinen Pinselstrich von Altmeistern wie Lucas Cranach d. Ä. und Hans Holbein d. J. Ab 1903 lehrte Zwinschter an der Dresdner Kunstakademie (als Nachfolger Pohles), ein Jahr später wurde er zum Professor berufen. Zu seinen Schülern gehörten u. a. Peter August Böckstiegel, Erich Fraaß, Josef Hegenbarth, Bernhard Kretzschmar, Otto Lange, Constantin von Mitschke-Colland, Lasar Segall.
Ein faszinierendes Zeugnis von Zwintschers Formensuche ist das Landschaftsbild »Der Sommertag« von 1896, in dem wir einem Jungen beim Träumen in der Mittagshitze auf einem Felsvorsprung mit steil aufragenden Birken hoch über dem Meißener Elbtal zusehen. Was so ungezwungen und friedlich scheint, enthält – wie eigentlich immer bei Zwintscher – beunruhigende Untertöne von Stillstand und Tod. In dieser Szenerie regt sich nichts, es geht kein Lüftchen, das überhoch platzierte, angeschnittene Wolkengespinst ist wie ein ahnungsvoller Geist an den scharfblauen Himmel gepinnt und kreiert zusammen mit der Aufsicht auf Träumer, Tal und tiefen Horizont eine irre Sturzperspektive, die den Betrachtenden den Boden unter den Füßen wegzieht.
Eines der unheimlichsten, heute einigermaßen skurril anmutenden Gemälde in der Ausstellung ist die nur zwei Jahre später entstandene Komposition »Der Gram«, die Darstellung einen nackten Jünglings, der seine früh verstorbene Geliebte betrauert, während hinter dem unbekleideten Paar, aus der Tiefe des Bildraumes, die Personifikation des Todes einen riesigen Marmorblock triumphierend und unbarmherzig auf den Rücken des jungen Mannes zurollt. Der Kontrast zwischen dem nackten Menschenpaar in der unteren Zone des Bildes und dem die Komposition dominierenden Tod mit dem massiven Steinbrocken vermittelt den übermächtigen Verlust wie eine körperliche Erfahrung.
Dabei irritiert die für Zwintscher wie für viele seiner Zeitgenossen aus Literatur, Musik und bildender Kunst typische Verbindung von Eros, Sexualität und Tod, die wir auch bei Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann, Gustav Mahler, Hodler und Egon Schiele finden. Zwintscher, der selbst auch Gedichte verfasste, betont den Gegensatz von Leben und Destruktion nicht nur durch die beiden makellosen nackten Körper im Vordergrund – einer in warmen Hauttönen, der andere leblos, in kaltem Grau-Grün –, wobei er deren Formen durch die pointierten Umrisslinien und den Hell-Dunkel-Kontrast mit dem düsteren Hintergrund geradezu plastisch modelliert. Die Tote trägt noch dazu die Züge der Frau des Künstlers.
In der Ausstellung begegnet uns Adele, von der Zwintscher insgesamt rund 15 Porträts fertigte, immer wieder und in höchst unterschiedlicher Form: 1901 in dem mit Reflektion und Realität spielenden, allein auf das mädchenhafte Antlitz konzentrierten »Bildnis der Frau des Künstlers« mit Spiegel, 1902 dagegen als elegante verschleierte Dame in Schwarz-Gold, die im Dreiviertelprofil vor heller Türlineatur selbst zum Ornament gerinnt. Zwintschers Bildnisse sind durchkomponierte Kunststücke und meisterhaft in der Oberflächenwiedergabe. Dieser Realismus geht mit einer seltsamen Überhöhung der Dargestellten einher: Weil Zwintscher die Figuren zentral platziert und auf Tiefenräumlichkeit verzichtet, dabei aber tiefenscharf jedes Detail von Haut, Haar und Kleidung sowie Blumen und Schmuckstücke inszeniert, entstehen fast hyperrealistische und doch unwirkliche, suggestive Bilder, die eine Ahnung vom komplexen Innenleben ihrer Protagonisten geben. Das wohl berühmteste Beispiel dafür ist das wunderbare, fast neusachliche Bildnis einer Unbekannten von 1904, die streng frontal und aufs Äußerste reduziert, in minimalistischer Reformkleidung, mit glimmender Zigarette in vollkommener Dunkelheit sitzt und uns fixiert. Die Zeitgenossen liebten Zwintscher für diese Art der malerischen Inszenierung und ließen sich von ihm reihenweise porträtieren, darunter Rainer Maria Rilke und Clara Rilke-Westhoff. Beim Gang durch die Ausstellung kann man sie nur zu gut verstehen.
Teresa Ende
Weltflucht und Moderne. Oskar Zwintscher in der Kunst um 1900.
Albertinum, bis 15. Januar 2023, www.albertinum.skd.museum