Positionsbestimmung

Meister 2022 im Oktogon der HfBK Dresden

Die Kunst der Navigation setzt die korrekte Positionsbestimmung voraus. Schließlich muss, wer den für sich richtigen Weg finden und gehen will, zunächst wissen, wo er steht. Im Bereich der Bildenden Künste ist das nicht anders – wobei »Positionsbestimmung« hier nicht im Sinne jenes in Texten zur Kunst inflationär gebrauchten P-Wortes zu verstehen ist, sondern tatsächlich als Bestimmung des eigenen Standpunktes.
In pandemischen Zeiten ist eine solche Positionsbestimmung ungleich schwieriger, manchmal für lange Zeit unmöglich. Die Beschränkungen, das wiederholte Absagen und Aufschieben von Projekten und Ausstellungen standen der befruchtenden Zusammenschau mit anderen Arbeiten im Wege, der Distanzierung und Scharfstellung, die die radikale räumliche Veränderung vom privaten Atelier zum öffentlichen Ausstellungssaal mit sich bringt, und – wenn die Schau einmal stand, aber wieder geschlossen wurde oder die Türen gleich ganz zu blieben – der Blick von und die Diskussion mit Dritten.

Angesichts dieser Zumutungen für Künstlerinnen und Künstler ist es umso gewinnbringender, dass die aktuelle Abschlussausstellung der Meisterschülerinnen und Meisterschüler der Fakultät Bildende Kunst der HfBK des Jahres 2022 im Oktogon an der Brühlschen Terrasse überhaupt realisiert werden konnte. Und es ist eine spannende, herausfordernde Ausstellung geworden, mit einigen sehr guten räumlichen Konstellationen und vielen überzeugenden, zum Teil erstaunlich reifen, herausragenden künstlerischen Werken.

Dazu gehören die fantastischen Zeichnungen von Diana Ludzay, die den Parcours durch die hohen Räume unter der Zitronenpresse eröffnen. Die mit Figuren, Landschaftsfragmenten und Schriftfetzen bekritzelten Blätter aus der Serie mit »36 Meditationen über Vereinzelung« von 2021 der Meisterschülerin bei Wolfram Adalbert Scheffler wirken spontan und unmittelbar, manchmal Comic- oder tagebuchartig. Dabei verrät das mal poetische, mal gestisch ausdrucksvoll aufbrausende Zeichenmeer eine große Reflexionstiefe. Es ist, als würde man den Medien Tagebuch und Zeichnung beim Nachdenken über sich selbst zuschauen, wenn Ludzay das eben Gezeichnete mit Comicblasen und Pfeilen weiter kommentiert, das Papier nicht nur mit Mal- und Zeichenmitteln, sondern auch mit Laugen bearbeitet und so das Infinito zur einzig möglichen Denk- und Darstellungsform erklärt.

Einen guten Kontrast bilden neben den Gemälden von Mona Pourebrahim (Klasse Ralf Kerbach) mit ihren menschenleeren verdunkelten neo-romantischen Landschaften und den seriellen Totem-Siebdrucken von Jan Kunze (Klasse Christian Macketanz) die Lauch- und Wurzelkreationen von Lion Hoffmann (Klasse Kerbach) im Zentrum des Raumes. Hoffmann präsentiert das Gemüse als quasi-menschliche Büste auf einem Sockel, mit gleicher aus der Präsentationshöhe und Vereinzelung resultierender Auratisierung, was umso witziger wirkt, als die Lauchschichten wie Persönlichkeitsfacetten aufgeblättert werden, während sich am Boden die variabel anschraubbaren Wurzelmodule ausbreiten und in die Höhe recken.

Das eigentliche Oktogon im Zentrum gehört den Fantasiewesen von Lars Frohberg (Klasse Martin Honert) und Grit Aulitzky (Klasse Carl Emanuel Wolff). Frohbergs Fell-Keramik-Kreaturen sind Hybride aus Tier, Objekt und Maske, ebenso gruselig wie Schrecken abwehrend. Sie hausen in einem Regal wie Kuscheltiere zur Geisterstunde, wobei sich die Material- und Maßstabsmixtur aller Zuordnung entzieht. Daneben entfalten die ebenfalls aus zum Teil glasierter Keramik gestalteten dadahaften Objekte von Grit Aulitzky ihr ganz eigenes Leben. Suggestiv scheinen die glatten Oberflächen zu wabern und zu schwingen, in der im hinteren Teil präsentierten Gruppe quillt eine rote Flamme wie ein überdimensionierter Lippenstift aus einem Fässchen, daneben trippelt eine an ein Stachelschwein erinnernde, borstige Kreatur mit ihrem Jungtier daher. Was Aulitzky in ihren Installationen ausbreitet, ist surreal, kreatürlich und humorvoll – und die Wirklichkeit mit einem Wimpernschlag passé.

Ganz anders, aber auch unwirklich, wirken die monumental angelegten Gestalten mit den übergroßen Händen und Füßen in den symbolhaften Gemälden von Danny Linwerk (Klasse Macketanz). Das Unbehagen, das die hier geschilderten Traum-Szenerien verbreiten, ist am glaubhaftesten, wenn es fast unmerklich via Farb- und Lichtgebung emporkriecht, wie in der extrem statischen Fischernetz-Betrachtung in der Alten Bibliothek.

Im Oktogon überzeugt die Wand-Papierarbeit »WOOF« von Lisa Pahlke (featuring Matthias Lehmann) aus dem Jahr 2021, die es vor der unruhigen Ziegelsteinmauer nicht leicht hat. Das mit schwingenden Tuschelinien versehene Papierkristall, das aus der roten Wand herauszuwachsen scheint, wirft alle Grenzen zwischen Bild und Objekt, zwischen Umriss und Binnenstruktur, Positiv- und Negativform über Bord. Zusammen mit den älteren, in der Alten Bibliothek präsentierten Arbeiten der Künstlerin – »Bingbong« von 2017 und die herausragende »x•\∆x« von 2020 – entsteht ein anschaulicher Bogen, der das Können und die künstlerische Entwicklung Pahlkes aufzeigt.

Im Pentagon Süd spielt, neben den berührenden Körperkommentaren von Anne-Cathrin Brenner (Klasse Kerbach) vor allem Elisa Manig, Meisterschülerin von Monika Brandmeier, ihre Klasse aus. Es ist wie die Fortsetzung der in den anderen Räumen angerissenen Frage: Was kann Skulptur, was kann Kunst in einer Zeit, in der das Greifbare, Materielle seine Bedeutung zu verlieren scheint, erst recht in der Pandemie? Genau diese Verunsicherung durch das Virtuell-Unräumliche im Raum aufzeigen, so jedenfalls lautet die Antwort, die Manig gibt: Das Wandobjekt »lippe« ist eine Art überdimensionierter futuristischer Besen an zwei Bügeln aus Holz, Aludibond, Lack und Schaumstoff, was zugleich raumgreifend oder aber vollkommen flach wirkt, je nachdem, wie wir uns dem Objekt nähern. Die Erfahrung ist sehr wohl an den konkreten Ort gebunden, Hunderten von Zoom-Konferenzen zum Trotz. Manig hebt die Wirklichkeitsverhältnisse aus den Angeln und setzt sie zugleich mit voller Wucht ins Recht zurück: Für »FLAP« wird das kaum fingergroße Metallscharnier zu wandbestimmender Größe aufgeblasen und damit die Redewendung von der Scharnierfunktion zum Bild-Objekt. In solchen Momenten wird die eigene künstlerische Positionsbestimmung zur Positionsbestimmung einer ganzen Zeit.
Teresa Ende

22. Meister 2022.
Oktogon der Hochschule für Bildende Künste, bis 10. April
www.hfbk-dresden.de