Neu atmen für den Wandel
Am 1. Juli öffnet die Ostrale ihre Tür in der Robotron-Kantine
Es klackt und kracht, wenn die Räder der Skateboardes, Inlines, Bikes oder Roller auf dem Areal zwischen Rathaus und Hygiene-Museum auf der Betonpiste landen. Manche der Fliegenden fahren verwegen ohne Schutz in kurzen Hosen und flatternden Shirts, andere sind behelmt und ausgestattet mit Protektoren. Und automatisch stellt man sich die Frage: Wie oft muss man stürzen, um eines dieser Kunststücke in Formvollendung zu beherrschen? Dabei ist nur wenige Meter entfernt, parallel zur Piste gelegen, die Kunst des Losfliegens und Anlandens ebenso präsent, wenn am 1. Juli die Biennale der Ostrale in der Robotron-Kantine eröffnet.
Kulturräume sind Sozialräume
Thematisch hat sich die Kunstschau dem wohl wichtigsten Apsekt der Gesellschaft gewidmet: der Verwänderung, dem Wandel zwischen Desorientierung und Neurorientierung. Ostrale-Chefin Andrea Hilger hat da eine klare Meinung: »So, wie wir jetzt leben, leben wir in naher Zukunft nicht mehr. Diese katastrophalen Umweltveränderungen, die wir nicht merken, nicht sehen wollen, führen für viele Menschen in eine Desorientierung, weil sie keinen Punkt mehr finden, an dem sie sich orientieren können. Denn die Umstände benötigen eigentlich eine so radikale Neuorientierung. Und wenn wir jetzt nichts tun, ist es für unsere Enkel und deren Kinder zu spät.« So wählte man für das Thema der Ostrale 2021 den poetischen Begriff »Atemwende«.
Gut zwei Wochen vor dem Opening ist zu sehen, was Andrea Hilger meint. Zwar ist vieles noch verpackt, auf dem Weg oder noch im Aufbau begriffen, doch zu sehen ist schon jetzt Warnendes, fast Propangandistisches, aber auch Hintersinniges und Verstecktes. In jedem Falle sind die Synapsen gefordert. Wird hier eben noch mit Parolen gearbeitet, führen Videos in andere Welten, brechen Installationen in die Gedankenbahn oder erahnen romantisierende Zeichnungen alter Häuser die ewige Frage, ob früher die Welt eine bessere war. Doch die Zeit drängt nach vorn, die Welt war nie besser, nur anders. Sich vor Veränderung zu verstecken, ist eine Kunst, die niemand kann. Aber die Kunst kann einer der Motoren sein, wenn rückwärtsgewandte Politik versucht, die Gesellschaft mit Bigotterie und heimat-süßen Trugbildern einzulullen, um von der Wichtigkeit des dringlichen Wandels abzulenken, nur um Wahlperioden zu überstehen.
»Nicht ohne Grund spielen Ökologie, Permakultur, fleischlose oder -arme Ernärhung eine immer größere Rolle. Denn die natürlichen Kreisläufe sind unterbrochen. Tieren und Pflanzen fehlen die natürlichen Räume, dem Menschen immer mehr Sozialräume«, ergänzt Andrea Hilger. Und Kulturräume sind Sozialräume – von denen es viel zu wenige gibt; das ist ihr Mantra. Sich selbst hat sie erstmals bei der Auswahl der Kunstwerke herausgehalten, sondern sich vor allem um die Umsetzung der Ausstellung gekümmert – ein Prozess, der ihr nicht immer leichtgefallen ist. Aber auf die Arbeit des osteuropäisch besetzten Kuratoriums ist sie wahnsinnig stolz. »Von Osteuropa geht eine besondere Kraft aus, was auch mit dem Erleben des Umbruchs von 1990 zu tun hat. Es gibt eine große Flexibilität im Handeln und Denken, andere Erfahrungswerte und man kann zum Beispiel in Ungarn sehen, wie eine ursprüngliche Entwicklung zur Demokratie hin auch gründlich schiefgehen kann.« So ist es kein Zufall, dass eines der Kernexponate ein großes Holzzimmer des ungarischen Künstlers István Csákány ist.
Ein schlimmer Ort mit Potenzial
Etwa 140 Ausstellende mit circa 550 Positionen darf man erwarten, der größe Teil davon ist in der Robotron-Kantine auf zwei Ebenen zu erleben. Erstmals wird der Bau komplett »bespielt«; in großen Bereichen wie auch vielen verwinkelten kleinen Räumen können die jeweiligen Werke, die aus allen denkbaren Genres kommen, direkt angepasst werden. Dabei betrachtet die Ostrale die »Atemwende« aus sehr vielen Richtungen. Nie weiß man, was hinter der nächsten Ecke kommen wird, welch optischen Wandel der nächste Raum bringt. Die Ausstellung erzählt nicht nur von Veränderung, sie lebt sie vor.
Und wenn es um Wandel und Neuorientierung geht, dann hat die Ostrale-Crew um Andrea Hilger und Antka Hofmann seit 2007 eine Menge Erfahrung. Nach den Mühen des Anfangs in den Futterställen des Schlachthofareals im Ostragehege, dem Wachsen und Werden dort und dem Morphen zur Biennale stand schließlich das Aus auf dem Gelände. Es folgte ein Ringen um einen neuen Standort, gar ein Wegzug aus der Stadt stand zur Debatte. Die Lösung war schließlich für 2019 eine dezentrale Ausstellung mit der alten f6-Fabrik als Zentrum. Nun also die Robotron-Kantine. Mitten in der hitzigen kulturpolitischen Diskussion um Erhalt oder Abriss des ostmodernen Gebäudes setzte erst das Kunsthaus Dresden mit Aktionen deutliche Zeichen, nun zeigen vier Monate Ausstellung das ganze Potenzial des Baus.
Damit es dazu kommen kann, war ein harter Gang in die Mühen der Ebene notwendig. »Das ist der schlimmste Ort, den wir jemals geöffnet haben, und ich war schon an einigen Orten beteiligt«, merkt Andrea Hilger an. »Es ist ja schön, wenn man uns Raumpioniere nennt, aber scharf bin ich auf diesen Titel nicht mehr. Um es klar zu sagen: Das ist der letzte Raum, den ich eröffne – schon gar nicht in der Kürze der Zeit.« Denn sehr schnell hat sich gezeigt, was neben dem Wirtschaftslobbyismus die größten Feinde der Kunst in der Kantine sind: die Feuchtigkeit und die Taubenpopulation mit all ihren Begleiterscheinungen. Allein die Beräumung von Müll, Dreck, Schimmel und Vogelexkrementen war ein Kraftakt ohnegleichen, der nur vom gesamten Team und vom Förderverein gestemmt werden konnte. »Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, wie das hier aussah, es ist jetzt fast ein Palast.« Dabei hat man aber nicht alle hinterlassenen Spuren ausradiert. Die Grafitti und Tags an den Wänden sind noch da und korrespondieren mit den ausgestellten Werken, die Infrastruktur wurde wieder begehbar gemacht, jedoch nicht glatt frisiert. Dass die extremen Anstrengungen der letzten Wochen an den Beteiligten nicht spurlos vorübergehen, ist spürbar. Wieder und wieder stellt Andrea Hilger die Großartigkeit der gesamten Crew in den Mittelpunkt und zollt der Überzeugungsgemeinschaft tiefsten Respekt.
Ostrale als Dezentrale
Etwas dezentral ist aber auch diese Ostrale. So hat man das Thema Wasser – siehe auch das EU-geförderte Projekt »Flowing Connections« – weitergedacht und geht in die Stadtentwässerung Dresden. »Wenn man nur einmal eine Führung dort mitgemacht hat, verliebt man sich in diese Menschen, die das durch uns verdreckte und verunreinigte Wasser wieder so weit aufarbeiten, dass man es in die Elbe weiterleiten kann«, zeigt sich Andrea Hilger begeistert. »Hier kann man erleben, wie schlampig wir mit einer unserer wichtigsten Ressource umgehen.« Dieses direkte Erleben vor Ort bringt Künstlerinnen und Künstler wiederum zu neuen Arbeiten, diese Arbeiten sind dann für das Publikum in den technischen Bereichen des Betriebes zu sehen. Eine besondere Symbiose, auf die man gespannt sein darf.
Eine andere Art der Intervention wird es in der Gedenkstätte Bautzner Straße geben, im früheren Stasi-Gefängnis. Hier spielen Wissen und Nichtwissen um die Vergangenheit ebenso eine Rolle wie Isolation, Propaganda und Entmenschlichung. Diese Themen werden auf ungewöhnliche Weise mit Installationen aufgenommen.
Natürlich macht die Corona-Pandemie auch der Ostrale auf vielfältige Weise zu schaffen. Um Kuratoriumssitzungen überhaupt möglich zu machen, begaben sich alle Beteiligten in eine freiwillige Quarantäne. So war man in der neuen »Basis« der Ostrale in Übigau unter sich. Niemand durfte ungetestet die Ausstellungsräume betreten, mit dem Gesundheitsamt gibt es eine enge Zusammenarbeit. Der Mehraufwand verschlingt inzwischen mehrere Zehntausend Euro. Da tut es gut, die neue Homebase auf der Rethelstraße 45 zu haben, die viel mehr ist als nur Büro oder Rückzugsgebiet. Sie ist für das ziemlich kulturarme Übigau ein neuer Kulturraum. Und weil die Ostrale nicht wie ein Alienschiff in fremden Gefilden landen wollte, hat man bei den Anwohnerinnen und Anwohnern umgefragt, was denn so gewünscht sei. Die Resonanz war riesig und reichte von Singen über Filme bis hin zu Workshops. Zudem hat man hier auch Artist-in-Residence-Möglichkeiten und ein Experimentierfeld für Dresdner Kunstschaffende – nicht wenigen sind durch die Pandemie Atelierräume oder auch Galerien abhandengekommen. Und dann wäre da noch der Garten, für den tolle Pläne gibt.
Die Chance nutzen
Apropos Garten. Der Rasen vor der Kantine mitten in der Stadt soll wie eine Nutzwiese behandelt werden. Beim Zutritt über die Treppe zwischen dem Grün gilt ab dem 1. Juli das 3G, also getestet, genesen oder geimpft. Testmöglichkeiten gibt es mehrere in der direkten Umgebung. Tickets kann man für zweistündige Timeslots vorab online erwerben, ein Kontingent wird aber immer für spontane Besuche bereitgehalten. Da aber viele Video-Exponate einen langen Aufenthalt voraussetzen, wird man sich diese auch zu Hause ansehen können. Aber diese Regelungen können sich auch bis zum 1. Oktober immer wieder ändern – in welche Richtung auch immer.
So enthält der Ostrale-Jahrgang 2021 zwei große Chancen. Zum Ersten könnte die Ausstellung durch die schiere Länge und das reine Dasein die Kantine als Ort der Kunst manifestieren; zum Zweiten hätte man im Zweijahresrhythmus eine neue Heimat gefunden. Aber im Worst-Case-Szenario wäre die ganze Arbeit in diesem Jahr umsonst gewesen. Um jedoch der Stadt, die im Jahr 2023 endgültig über das Kantinen-Schicksal entscheiden will, eine Pro-Entscheidung leicht zu machen, ist ein Player zu wenig. Und für mehr, viel mehr, gibt der Ort einiges her: Hier kann man unterschiedlichste Konzepte aus Kunst, Bildung und Wissenschaft zu einem Hotspot vereinen, wenn Interessierte zueinanderfinden. Widerstreitende Konzepte, unterschiedliche Ansätze, verschiedenste Akteurinnen und Akteure sind dafür nicht nur zu tolerieren, sondern für eine zukunftsweisende Diversität unbedingt notwendig. Denn nur aus dem Streit der Ideen erwächst Neues, Großartiges, Überraschendes. Der Weg wird kein leichter sein, das ist Andrea Hilger klar, es wird ein Kampf und ein Ringen. »Die Chance ist da«, meint sie und blickt vielsagend zum Rathaus hinüber. »Jetzt müssen wir sie nur nutzen.« Und mit wir meint sie nicht nur die Ostrale.
Uwe Stuhrberg
Ostrale 1. Juli bis 3. Oktober,
Robotron-Kantine, Stadtentwässerung,
Gedenkstätte Bautzner Straße, OstraleBasis Übigau
Montag bos Freitag 10 bis 18 Uhr, Sonnabend und Sonntag 11 bis 19 Uhr
www.ostrale.de