Kunst und Revolution
Künstlerisch-kritische Intervention zu Michail Bakunin und Richard Wagner von Jean Kirsten und Andreas Schwab in Graupa
Im Vorgarten des Graupaer Jagdschlosses ist zurzeit ein ungewöhnliches Gewächs zu bewundern. »Fast ein Merkabah oder ein Keplerstern« heißt das orangefarbene Metallobjekt des Dresdner Künstlers Jean Kirsten, (beinahe) ein Oktaederstern, der auf die kleine Sonderausstellung im Innern des Schlosses verweist: eine künstlerisch-historische Auseinandersetzung mit zwei Protagonisten des Dresdner Maiaufstands von 1849 anlässlich des 175. Jahrestages der Revolution. Vor allem aber ist die Schau ein Denkanstoß zum Verhältnis von Kunst, Politik und Gesellschaft, initiiert von dem Dresdner Künstler Jean Kirsten.
Kirsten ist Jahrgang 1966 und studierte Malerei und Grafik an der Hochschule für Bildende Künste bei Günter Horlbeck. Anschließend war er Meisterschüler von Günther Hornig und von 1998 bis 2004 als dessen künstlerischer Assistent tätig. Seit 2009 setzt sich Kirsten intensiv mit dem modernen Ausdruckstanz und insbesondere mit dem von Rudolf von Laban entwickelten innovativen Notationssystem zur Aufzeichnung und Analyse menschlicher Bewegung, der sogenannten Labanotation, auseinander. Diese überträgt Kirsten in abstrakte Zeichen-Bilder, Applikationsarbeiten, Glasfenster und skulpturale Objekte. Die Arbeiten folgen stets einem rationalen Konzept, das sich vorwiegend der elementaren künstlerischen Mittel von Linie und Fläche bedient. In dieser radikalen Beschränkung gelingt es Kirsten, die Grenzen zwischen Zwei- und Dreidimensionalität aufzuweichen und dreidimensionale Wahrnehmungsphänomene und die Wahrnehmung selbst zu reflektieren.
Um Wahrnehmung geht es auch in Graupa, wenngleich weniger um visuelle Phänomene als um die Wahrnehmung von Geschichte sowie deren treibende Kräfte – Personen ebenso wie Utopien. Zwei revolutionäre und höchst problematische Figuren (beide wären glühende Antisemiten) begegneten sich im Frühjahr 1849 in Dresden: Der russische Anarchist Michail Bakunin und der aus Leipzig stammende Komponist und Musikschriftsteller Richard Wagner. Beide Mitte dreißig, beide fasziniert voneinander und von der Revolution überzeugt, standen sie gemeinsam hinter den Barrikaden in der Dresdner Altstadt. Nach der Niederschlagung des Aufstands konnte Wagner über Weimar und Zürich nach Paris und zurück in die Schweiz fliehen. Verbannt und bespitzelt, arbeitete er die Revolution auf, um sich schließlich wieder seiner Musik zu widmen. Bakunin wurde in Chemnitz verhaftet, nach Dresden und anschließend auf die Festung Königstein verbracht, bevor er an Österreich ausgeliefert und schließlich nach Sibirien verbannt wurde. Von dort gelang ihm die Flucht in die Schweiz. Im Rückblick, in ihren Reflexionen auf die Ereignisse von 1848/49, modifizierten Bakunin und Wagner ihre revolutionären Forderungen.
Die Worte der beiden – entnommen Bakunins Briefen und Verhören sowie Wagners Briefen und Schriften, darunter fünf Revolutionsgedichte und Beiträge für August Röckels »Volksblätter« – bilden das Gerüst und die Außenhaut der kleinen Ausstellung im Graupaer Jagdschloss. Auf dem raummittig platzierten hohen Postament mit der Aufschrift »Auf die Barrikade!« steht ein großes, mit Zitaten versehenes Papierobjekt von Jean Kirsten. Es besteht aus zwei großen Tetraedern, die einander mit je einer Spitze durchdringen, wie zwei aufeinandertreffende Kämpfer, oder besser: wie zwei Feuerzungen, schließlich symbolisierten die spitzen Ecken des Tetraeders für Platon die Strahlkraft des Feuers. Die Außenflächen des geometrischen Körpers sind mit den Texten Bakunins (links) und Wagners (rechts) versehen. Zu ihren Füßen, auf der Deckfläche des Sockels, liegen Papierblätter mit den Namen der Todesopfer und Verwundeten des Maiaufstands.
Hinter dem wortgewaltigen Denkmal spannt sich Kirstens sechsteiliges Acrylgemälde »barrikadiert« aus dem Jahr 2023. Seine Kompositionsstruktur aus einander abwechselnden schwarzen und weißen Streifen, die das Gefühl für vorn und hinten verwirren, taucht in dem kleinen Bild auf der Eingangswand wieder auf, wo das Gefüge allerdings so angeordnet ist, dass wir eine kleine abstrahierte Kämpferfigur zu erkennen meinen, die zum Barrikadenkampf aufruft.
Die linke und rechte Wand des Raumes sind von Andreas Schwab gestaltet. Der Schweizer Historiker und aktive Politiker wurde 1971 in Bern geboren und kuratierte kulturgeschichtliche Ausstellungen wie die Schau „Die 68er. Kurzer Sommer – lange Wirkung« im Historischen Museum Frankfurt am Main 2008. Er ist Autor zahlreicher Bücher über den Monte Verità, über Künstlerkolonien und Künstlertum. Der neueste Titel heißt »Freiheit, Rausch und schwarze Katzen. Eine Geschichte der Boheme«. In Graupa entwirft Schwab unter den Stichworten »Barrikade« und »Rückzug« zwei Zitatwände mit Aussprüchen von Personen der unmittelbaren Gegenwart – Ines Geipel, Sascha-Ilko Kowalczuk, Monika Maron, Anne Rabe, Lukas Rietzschel, Ingo Schulze, Uwe Tellkamp. »Barrikade« steht dabei für jene, die aktiv und lautstark politisch das Wort ergreifen, »Rückzug« für jene, die ihre Kunst in Abgeschiedenheit verfolgen und sich durch diese mittelbar einbringen. Was braucht es für eine wehrhafte Demokratie? Und was in einer gespaltenen Gesellschaft?
Teresa Ende
Auf die Barrikade. Eine Sonderausstellung zu Michail Bakunin und Richard Wagner mit einem Fenster in die Gegenwart, von Jean Kirsten und Andreas Schwab
Bis 15. September 2024, Richard-Wagner-Stätten Graupa.