Im Freien

Neues Rathaus präsentiert die zweite Ausstellung der Gruppe »Pleinair«

Sabine Heinrich: »Wetter«, Mischtechnik (2024)

Der Ausstellungstitel »Raum, Struktur und Fläche« benennt elementare Koordinaten der künstlerischen Gestaltung. Dabei sind die drei Begriffe nicht einmal physisch-materielle bildgebende Mittel wie Farbe, Leinwand oder Papier, und auch keine Werkzeuge, wie Stift, Pinsel, Sprühdose oder Kamera. Vielmehr handelt es sich um abstrakte, scheinbar lebensferne Begriffe. Sie mit Leben zu füllen oder sich ihnen gegenüber irgendwie zu verhalten, obliegt jeder Künstlerin und jedem Künstler mit jeder Arbeit aufs Neue, in einem individuellen Aushandlungsprozess von Wirklichkeitserfahrung und Fiktion, Gegenständlichkeit und Abstraktion, Innen und Außen.

Die Schau »Raum, Struktur und Fläche« bietet Gelegenheit, diese Aushandlungsprozesse anhand der Werke von fünf im Umkreis von jetzt oder ehemals in Dresden beheimateten Künstlerinnen und Künstlern zu studieren: Julius Clausnitzer, Anna Gorsleben, Susanne Haase, Sabine Heinrich und Henry Puchert. Es ist eine sehr heterogene, aber keine zufällige Zusammenstellung, denn neben Überschneidungen in der Ausbildung an der Dresdner Hochschule für Bildende Künste, teilweise räumlicher und/oder generationeller Nähe gibt es zwischen diesen fünf vor allem eine Gemeinsamkeit: Sie alle haben, und manche schon mehrfach, während der Pleinair-Tage und -Wochen auf dem Künstlerhof Röhrsdorf im Meißner Land bei der Malerin und Grafikerin Franziska Kunath gemeinsam gearbeitet.

Seit 2015 lädt Kunath, die die Ausstellung in der Galerie 2. Stock auch kuratiert hat, jedes Jahr im April circa 20 Künstlerkolleginnen und -kollegen zu Pleinairs auf ihren Hof ein, die dann dort und auf Streifzügen in den nahe gelegenen Grund, auf die umliegenden Felder und zur Hochebene zeichnen, malen, fotografieren und, zurück auf dem Hof, gemeinsam kochen und essen und für die Dauer der Pleinairs auch dort übernachten. Dabei entsteht sowohl miteinander als auch umgeben von der im Frühjahr explodierenden Natur eine intensive, das eigene Schaffen beflügelnde Arbeitsatmosphäre.

Pleinairs (französisch für »im Freien«) sind eine alte künstlerische Tradition, obwohl so richtig im Freien erst seit dem 19. Jahrhundert (der Erfindung malfertiger Tubenfarben sei Dank) gemalt wurde, bei unterschiedlichen Licht- und Schattenverhältnissen und wechselndem Wetter. Beim Rundgang durch die Ausstellung der Pleinair-Künstlerinnen und -Künstler von Röhrsdorf begegnen wir sowohl Positionen, die in dieser Tradition der Freilichtmalerei stehen, als auch solchen, deren Umsetzungen abstraktere Verarbeitungen des Naturerlebnisses sind. Die Bandbreite ist enorm.

Die Dresdner Malerin und Zeichnerin Anna Gorsleben etwa konzentriert sich während ihrer Aufenthalte in Röhrsdorf auf die Arbeit im kleinen Format, um tatsächlich im Freien und ganz beweglich, die Leinwand oder den Block auf dem Schoß, Situationen zu entdecken und skizzenhaft einzufangen: blühende Bäume und Sträucher, Schafe im Garten, eine sich räkelnde oder vor sich hindösende Katze, ein toter Vogel, eine Gruppe Badende oder die befreundete Künstlerkollegin Susanne Haase beim Malen. Gorsleben arbeitet dafür mit chinesischer Tusche, Pastell- oder Lithokreide, die das spontane, rasche Arbeiten begünstigen.

Die heute in Leipzig ansässige Grafikerin Susanne Haase hat in Röhrsdorf vor allem aquarelliert und damit in einer Technik gearbeitet, die sie zuvor während einer längeren Verletzungspause ans Bett gefesselt für sich entdeckt hat. In Röhrsdorf entstanden ganz der Natur verpflichtete Tusche-und-Aquarell-Arbeiten auf Papier, zum Beispiel von prächtigen Zitronen oder üppigen Blüten. In den Blättern »Quallengarten« und »Rotes Beet« dagegen entwickeln die Naturformen ein Eigenleben hin zu alles überwuchernden Allover-Hybriden zwischen Blüte, Amöbe, Nesseltier und Ornament.

Was wir hier schon ahnen – wie unterschiedlich das faktisch Gegebene von der oder dem Einzelnen gesehen und künstlerisch umgesetzt werden kann –, nimmt sich beim direkten Vergleich von verwandten Motiven mitunter faszinierend konträr aus: Während die Dresdner Künstlerin Sabine Heinrich die Röhrsdorfer Hochebene in der »Wetter« betitelten großformatigen Arbeit in Mischtechnik auf Papier als vollflächig-geometrische Formation in Gelb, Blau und Grün entwirft, macht der Fotograf Julius Clausnitzer aus demselben Motiv kleinteilige Strukturerkundungen ganz ohne Farbe. Ausgehend vom ähnlichen Motiv finden beide zu vollkommen unterschiedlicher Bildlichkeit, obwohl ihr Werkprozess jeweils radikale Reduktionsschritte – weg von jeglicher Farbe bzw. weg von jeglicher Binnenstruktur – umfasst.

In vollkommen anderer, sehr experimenteller Weise geht der Maler, Grafiker und Plastiker Henry Puchert der Materialität und dem inneren Kern der uns umgebenden Landschaft nach. In seiner mehrteiligen Abreibung mit dem Titel »An den Bruchstellen« in Grafit auf Papier wird die Binnenstruktur eines gespaltenen Baumes, man kann sagen: seziert, ohne sie eigentlich abzubilden. Das Kleine, das wir durch Puchert groß sehen, wird im Auge der Betrachtenden wieder ins Große verwandelt: Aus den winzigen, aufgeblätterten Strukturen spinnt das Gehirn eine klein gesehene Landschaft aus der Vogelperspektive, in der sich Gräben oder Höhenlinien verstecken.

Bei allen fünf künstlerischen Positionen dieser Ausstellung sind Raum, Struktur und Fläche so etwas wie Brücken beim Hin-und-her-Schreiten zwischen realer Welt und Bildwelt. Sie helfen dabei, das dort Erkannte hier erneut sichtbar zu machen und zum Schwingen zu bringen.
Teresa Ende

Raum, Struktur und Fläche. Galerie 2. Stock, Neues Rathaus, bis 22. November